Wiederkehrende Arbeitsabläufe müssen standardisiert und dokumentiert werden. Dieser Glaubenssatz ist fest in der Kultur von großen Industrieunternehmen verankert. Völlig zu Recht, wenn es um effiziente Massenproduktion mit allen ihren anhängigen Prozessen wie beispielsweise der Logistik geht. Schwierig wird es wenn dieser Glaube an die heilsame Wirkung von Prozessen unreflektiert auf die Durchführung von Projekten im Großen einerseits und auf die Abläufe im Projekt im Kleinen andererseits übertragen wird. Noch schwieriger wird es, wenn diese Standards und Best-Practices erstarren und durch die lebendige Praxis nicht fortentwickelt werden.
Jedes Projekt muss sich um Anforderungen, Risiken, Stakeholder, Planung, Controlling und vieles mehr kümmern, was in Standards und Vorgehensmodellen beschrieben ist, nur eben nicht in gleicher Weise und in gleicher Intensität. Gerade in produzierenden Unternehmen, die ja auf reibungslos funktionierende Prozesse und klar definierte Rollen für ihr Tagesgeschäft angewiesen sind, ist es nicht immer einfach zu akzeptieren, dass Projekte einmalige Vorhaben sind und prinzipiell individuell ausgeprägt werden müssen.
The nice thing about standards is that you have so many to choose from.
Andrew S. Tanenbaum
Ohne Frage lassen sich wiederkehrende Elemente bei der Planung und Durchführung von Projekten identifizieren. Die großen Standardwerke der großen Verbände des Projektmanagements sowie die vielen Vorgehensmodelle in Unternehmen dokumentieren, schulen und zertifizieren genau das. Darin liegt ein großer Wert einerseits, verbirgt sich aber auch eine große Gefahr andererseits. Wertvoll an solchen Standards ist der Überblick über das was nach der reinen Lehre alles zum Projekt und Projektmanagement gehören könnte: ein Orientierungsrahmen innerhalb dessen sich das jeweilige Projekt bewegen sollte. Niemals aber darf ein solches Vorgehensmodell oder ein Standard starr nach Lehrbuch angewendet werden, sondern muss immer mit Erfahrung und Verstand für die jeweilige Situation angepasst werden. Eine Massenfertigung von Projekten nach festen Schablonen kann es nicht geben.
Individuals and interactions over processes and tools.
Manifesto for Agile Software Development, 2001
Standards, Vorgehensmodelle und Prozesse sind im Prinzip ja nichts anderes als kondensiertes und konserviertes Erfahrungswissen, Hypothesen über die derzeit beste Art eine Aufgabe oder gar ein Projekt durchzuführen. Solche Hypothesen dürfen aber niemals zur unantastbaren Wahrheit werden, sondern müssen prinzipiell falsifizierbar sein und von neuen Erfahrungen widerlegt werden dürfen. Deshalb ist es notwendig und sinnvoll, dass gerade im Bereich des Projektmanagements kreativ experimentiert wird. Genauso ist es aber notwendig, dass die Erkenntnisse aus dieser kreativen Auslegung – und teilweise auch dem bewussten Brechen – von Regeln wieder systematisch zurückfließen in das Regelwerk und Prozessdefinitionen. Nur so bleiben Standards lebendig und nützlich.
Learning is not compulsory – neither is survival.
W. Edwards Deming