Kult der Dringlichkeit

Mein neu­er Lieb­lings­aus­druck im Mana­ger-Bull­shit-Bin­go ist ein­deu­tig „sen­se of urgen­cy“. Nicht im eigent­li­chen und berech­tig­ten Sin­ne von John Kot­ter, son­dern als ein­sei­ti­ge Hul­di­gung der Dring­lich­keit. Gemacht wird was drin­gend ist. Wer lang­fris­tig und nach­hal­tig vor­geht muss sich dann eben den Vor­wurf eines feh­len­den „sen­se of urgen­cy“ gefal­len las­sen. Im per­ma­nen­ten Feu­er­wehr­ein­satz dreht man sich immer schnel­ler im Kreis. Man hat sich ver­lau­fen, aber trotz­dem das Gefühl gut voranzukommen.

In einem Ver­än­de­rungs­pro­zess, egal ob es sich um eine per­sön­li­che, orga­ni­sa­to­ri­sche oder gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung han­delt, ist ein Ver­ständ­nis der Dring­lich­keit, John Kot­ters bekann­ter Begriff „sen­se of urgen­cy“, defi­ni­tiv hilf­reich. Nur ist die­ses Ver­ständ­nis der Dring­lich­keit Mit­tel und nicht Zweck. Das Ver­än­de­rungs­vor­ha­ben ist wich­tig (sonst soll­te es gar nicht begon­nen wer­den) und die Dring­lich­keit hilft bei der Durchführung.

Der voll­kom­me­ne Welt­mann wäre der, wel­cher nie in Unschlüs­sig­keit stock­te und nie in Über­ei­lung geriete.
Arthur Scho­pen­hau­er

Kei­nes­falls soll­te der sen­se of urgen­cy als Recht­fer­ti­gung für eine ein­sei­ti­ge Ori­en­tie­rung rein nach Dring­lich­keit ver­stan­den wer­den. Ohne eine lei­ten­de über­ge­ord­ne­te Wich­tig­keit führt die Dring­lich­keit allein zu ori­en­tie­rungs­lo­ser Belie­big­keit. Es zählt nur­mehr das Drin­gen­de oder jeden­falls das was an höher bezahl­ter oder ander­wei­tig ein­fluss­rei­cher Stel­le als drin­gend gese­hen oder drin­gend gemacht wird. Die Fol­ge sind mehr oder weni­ger zusam­men­hangs­lo­se Hau­ruck-Aktio­nen ohne nach­hal­ti­ge Wir­kung erar­bei­tet von Men­schen unter Über­last, was dadurch natür­lich schon den Keim der nächs­ten Taskforce in sich trägt. Haben uns ver­lau­fen, kom­men aber gut vor­an, hat Tom deMar­co die­sen Zustand besin­nungs­lo­sen Tau­mels in Pro­jek­ten beschrieben.

You should sit in medi­ta­ti­on for 20 minu­tes a day. Unless you’re too busy, then you should sit for an hour.
Weis­heit aus dem Zen-Buddhismus

Wenn Sie Ihr Team also so rich­tig auf­rei­ben wol­len, wech­seln Sie kurz­fris­tig und häu­fig die Rich­tung, prio­ri­sie­ren Sie nach Gut­dün­ken um. Schließ­lich sind Sie der Chef und müs­sen es am bes­ten wis­sen. Und sor­gen Sie dafür, dass zu der ope­ra­ti­ven Hek­tik auch noch mög­lichst viel admi­nis­tra­ti­ver Auf­wand kommt. For­dern Sie trotz Ihres aus­ge­präg­ten sen­se of urgen­cy eine detail­lier­te Pla­nung für die nächs­ten Jah­re! Kurz­um: „Sor­gen Sie dafür, dass die Geschwin­dig­keit der Ent­schei­dun­gen deut­lich höher ist als die der Umset­zung.“ (Peter Kruse)

Wei­te­re wert­vol­le Tipps für völ­li­gen Still­stand in Ihrem Unter­neh­men oder in Ihrem Pro­jekt fin­den Sie im fol­gen­den Video des unver­ges­se­nen Peter Kru­se und natür­lich im ers­ten Kapi­tel des Hand­buchs für den klei­nen Kon­zer­n­au­to­kra­ten.



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6 Kommentare

Jens von Gersdorff 6. August 2016 Antworten

Wie­der tref­fend. Und es führt nicht nur Unter­neh­men zum Still­stand, es brennt Mit­ar­bei­ter auch aus. Bis zu kör­per­li­chen Beschwerden.
Vie­len Pro­jek­ten fehlt die Visi­on, in der sie agie­ren. Es ist alles Tak­tik ohne Strategie.
Oft kann man ein Pro­jekt nur durch die Fra­ge nach dem mit­tel- oder lang­fris­ti­gen Ziel töten. Da stößt man näm­lich in den luft­lee­ren Raum.
Tom deMar­co hat wie so oft recht!

Marcus Raitner 7. August 2016 Antworten

Vie­len Dank, lie­ber Jens. Die sinn­lo­se weil kurz­fris­ti­ge Ori­en­tie­rung an der Dring­lich­keit brennt tat­säch­lich Mit­ar­bei­ter aus. Oft­mals steckt hin­ter den Pro­jek­ten auch gar kein ech­tes Ziel, son­dern nur kurz­fris­ti­ges poli­ti­sches Kal­kül. Als Mit­ar­bei­ter tut man gut dar­an das zu erken­nen und sol­che Pro­jek­te und Orga­ni­sa­tio­nen die sie gesche­hen las­sen zu meiden.

Roland Dürre 7. August 2016 Antworten

Hal­lo Mar­kus, viel­leicht erin­nerst Du Dich an eine Fra­ge, die vor viel­leicht 20 Jah­ren ger­ne in Bewer­bungs­ge­sprä­chen gestellt wurde:

Sie haben Drin­gen­des und Wich­ti­ges zu erle­di­gen. Was machen Sie als erstes?“

Man­che lies­sen sich da „ins Bocks­horn“ jagen. Die wur­den dann belehrt, dass etwas, das nicht wich­tig ist auch nicht drin­gend sein kann (oder so ähnlich) :-)

Marcus Raitner 7. August 2016 Antworten

Lie­ber Roland, eine gute Fra­ge. Auch wenn ich nie in den zwei­fel­haf­ten Genuss von rich­ti­gen Vor­stel­lungs­ge­sprä­chen gekom­men bin.

Aaron Niemeyer 7. August 2016 Antworten

Einen Sen­se of Urgen­cy im umge­kehr­ten Sin­ne wür­de ich mir hin­ge­gen in vie­len Situa­tio­nen wün­schen: Brau­chen wir die­ses Mee­ting unbe­dingt? Wie drin­gend ist das gefor­der­te Tele­fo­nat wirklich?

Gruß

Marcus Raitner 8. August 2016 Antworten

Sehr rich­tig. Aber um das zu bewer­ten müss­ten man ja vor dem Mee­ting über­le­gen wozu es gut sein soll und was eigent­lich erreicht wer­den soll? Dar­an krankt es meis­tens ja schon.

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