Anzeichen einer Angstkultur

Jede Orga­ni­sa­ti­on bil­det auto­ma­tisch eine spe­zi­fi­sche Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tur. Expli­zit und impli­zit regelt die­se Kul­tur das Zusam­men­le­ben durch Wer­te, Nor­me und Para­dig­me. Jen­seits der beschrie­be­nen Wer­te einer Orga­ni­sa­ti­on, in denen die übli­chen Ver­däch­ti­gen Ver­trau­en, Respekt und Wert­schät­zung sich wie ein Man­tra wie­der­ho­len, gibt es undo­ku­men­tier­te, dafür aber umso mäch­ti­ge­re Leit­mo­ti­ve. Nicht sel­ten ist Angst das domi­nie­ren­de Leit­mo­tiv, erkenn­bar an untrüg­li­chen Anzei­chen wie Abschot­tung, Miss­erfolgs­ver­mei­dung und Schuld­zu­wei­sun­gen.

Nicht über­all zeigt sich die Angst­kul­tur so deut­lich wie im Rat­ge­ber für den klei­nen Kon­zer­n­au­to­kra­ten im Kapi­tel Füh­ren mit Angst beschrie­ben. Viel wahr­schein­li­cher wird die Angst­kul­tur ver­steckt unter aller­lei heh­ren Unter­neh­mens­wer­ten und Wohl­fühl-Klim­bim (Rein­hard K. Spren­ger). Im täg­li­chen Mit­ein­an­der bleibt die Angst trotz­dem das Leit­mo­tiv und äußert sich in Abschot­tung, Miss­erfolgs­ver­mei­dung und Schuldzuweisung.

Abschottung

Sowohl der ein­zel­ne Mit­ar­bei­ter als auch sei­ne Orga­ni­sa­ti­ons­ein­heit behin­dern sys­te­ma­tisch den frei­en Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen. Was nicht hier erfun­den wur­de, gilt nichts. Was hier schief ging, soll bes­ser nie­mand außer­halb erfah­ren. Tief sitzt die Angst, durch Trans­pa­renz im Rin­gen mit den ande­ren Silos einen Nach­teil zu erfah­ren. Das gemein­sa­me Orga­ni­sa­ti­ons­ziel ist neben­säch­lich, es zäh­len die Zie­le der jewei­li­gen Orga­ni­sa­ti­ons­ein­heit und die per­sön­li­chen Zie­le. Zusam­men­ar­beit wird durch Pro­zes­se und Schnitt­stel­len prä­zi­se gere­gelt. Gear­bei­tet wird neben- und nach­ein­an­der, sel­ten mit­ein­an­der. Gere­det wird wenig mit­ein­an­der dafür umso mehr übereinander.

When­ever the­re is fear, you will get wrong figures.
W. Edwards Deming

Social Intra­nets funk­tio­nie­ren in die­ser Kul­tur nur sehr begrenzt. Öffent­lich für alle im Unter­neh­men sicht­bar dis­ku­tie­ren ist viel zu ris­kant. Die Dis­kus­si­on beschränkt sich daher auf geschlos­se­ne Grup­pen und in der Regel auf ein­fa­che Mit­ar­bei­ter oder maxi­mal die unters­te Manage­ment­ebe­ne. Noch weni­ger funk­tio­nie­ren Fuck­up-Nights bei denen Miss­erfol­ge berich­tet wer­den mit dem Ziel gemein­sam dar­aus zu ler­nen. Bar­camps dege­ne­rie­ren meis­tens zu nor­ma­len Kon­fe­ren­zen mit vor­be­rei­te­ten Vor­trä­gen, denn alles Spon­ta­ne und Unvor­be­rei­te­te ist ten­den­zi­ell ris­kant und ein gefun­de­nes Fres­sen für „die Anderen“. 

Misserfolgsvermeidung

In einer Angst­kul­tur sind die Men­schen moti­viert von der Ver­mei­dung von Miss­erfol­gen anstatt durch das Stre­ben nach Erfolg (vgl. die Theo­rie von John Wil­liam Atkin­son). Alles muss vor­be­rei­tet und abge­si­chert wer­den. Mee­tings müs­sen in Vor­be­rei­tungs­mee­tings vor­be­rei­tet wer­den und die Teil­neh­mer gebrieft wer­den. Schrift­li­che Aus­sa­gen wer­den ent­we­der ver­mie­den (dar­um auch der Miss­erfolg eines Social Intra­nets in die­ser Kul­tur) oder nur in Form von off­zi­el­len Pro­to­kol­len getä­tigt; natür­lich nur nach mehr­fa­chen Schlei­fen zur Abstim­mung des Inhalts. 

Um Kri­tik zu ver­mei­den, sage nichts, mache nichts und sei nichts.
Aris­to­te­les

Die Fol­gen die­ser Miss­erfolgs­ver­mei­dung sind Mut­lo­sig­keit und Kon­for­mi­tät: gewagt wird nur was ande­re auch schon so ähn­lich aus­pro­biert haben. Kei­ne wirk­lich guten Vor­aus­set­zun­gen zum Erfin­den neu­er Geschäfts­mo­del­le.

Schuldzuweisungen

Im Fal­le eines Miss­erfolgs fin­den in einer Angst­kul­tur zwei Stra­te­gien Anwen­dun­gen: zuerst die Ver­tu­schung (sie­he den Die­sel-Skan­dal bei VW) und dann die Suche nach den Schul­di­gen. Erst danach darf nach der Lösung gesucht wer­den, bevor­zugt natür­lich bei „den Ande­ren“ oder „im Pro­zess“. Gelernt und opti­miert wird im kleins­ten Kreis und Gelern­tes ungern preis­ge­ge­ben, um sich einer­seits nicht die Blö­ße zu geben und ander­seits den schein­ba­ren Vor­teil des Gelern­ten nicht aufzugeben.

The ene­my is fear. We think it is hate; but, it is fear.
Gan­dhi



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4 Kommentare

Thilo Niewöhner 30. Juli 2016 Antworten

Was mir bei die­sen The­men immer in den Sinn kommt, sind ver­schie­de­ne Zita­te aus grund­le­gen­den Werken.

Bei­spiel Grundgesetz
Art 2 (1) „Jeder hat das Recht auf die freie Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit, soweit er nicht die Rech­te ande­rer verletzt […]“

Bei­spiel Decla­ra­ti­on of Independence
„We hold the­se truths to be self-evi­dent, that all men are crea­ted equal, that they are endo­wed […] with cer­tain unali­enable Rights, that among the­se are Life, Liber­ty and the pur­su­it of Happiness.“

Irgend­wie habe ich immer mehr das Gefühl, daß man in vie­len Fir­men an der Stech­uhr tat­säch­lich grund­le­gen­de Rech­te und Eigen­schaf­ten abgibt, die eigent­lich als unver­äu­ßer­lich gelten.
Spren­gers „Infan­ti­li­sie­rung“ wird dem eigent­lich nicht gerecht, ver­nied­licht das The­ma mehr als angemessen.

Marcus Raitner 31. Juli 2016 Antworten

Dan­ke für dei­ne Ergän­zun­gen, Thi­lo. Es fühlt sich tat­säch­lich in man­chen Unter­neh­men so an als hät­te man an der Stech­uhr und gegen Bezah­lung wesent­li­che Grund­rech­te auf­ge­ge­ben. Dort sollst du dich auch nicht ent­fal­ten, son­dern funk­tio­nie­ren. Oder mit den Wor­ten von Hen­ry Ford: «Why is it every time I ask for a pair of hands, they come with a brain attached?»

Bernhard 14. Oktober 2016 Antworten

Dei­ne Aus­füh­rung gefal­len mir. Jedoch stellt sich mir die Fra­ge – wie kommt man prak­tisch aus die­ser Misere?
Per­so­nal­kos­ten­druck wird es auch zukünf­tig geben.
Das Ver­trau­en der Mann­schaft ist schwer angeschlagen.
Der Fisch fängt beim Kopf zum stin­ken an – oder kann ich als ein­sa­mer Sol­dat auch etwas bewir­ken (abge­se­hen von Kündigung)?
Eine Job­ga­ran­tie wür­de die Aus­gangs­si­tua­ti­on schlag­ar­tig ver­än­dern – oder haben die Füh­rungs­kräf­te Angst vor einem der­art radi­ka­len Schritt?
Was pas­siert wenn man von einer ver­ti­ka­len auf eine hori­zon­ta­le Orga­ni­sa­ti­ons­form wech­selt – oder haben die Füh­rungs­kräf­te Angst, Macht zu verlieren?
Immer wie­der Angst, Ohn­macht, Unsi­cher­heit und kurz­fris­ti­ge Ziele!

Marcus Raitner 16. Oktober 2016 Antworten

Mit Sicher­heit hemmt die Angst (auch und gera­de bei den Ent­schei­dern) die Ver­än­de­rung. So radi­kal muss das aber auch nicht sein, wie wäre es bei­spiels­wei­se, das Glück und die Freu­de der Mit­ar­bei­ter als ech­ten Unter­neh­mens­wert wirk­lich zu leben? Und Mit­ar­bei­ter nicht auf ihre Rol­le zu redu­zie­ren, son­dern den gan­zen Men­schen wert­zu­schät­zen. Oder Mit­ar­bei­ter wie Erwach­se­ne zu behan­deln und nicht – egal wie lie­be­voll – aus dem Eltern-Ich her­aus zu ent­mün­di­gen? Dass so ein Wan­del mög­lich ist, zeigt bei­spiels­wei­se die bemer­kens­wer­te Ent­wick­lung von Upstalsboom.

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