Prinzipien agiler Organisationen: Kundenorientierung durch Dezentralisierung

Agili­tät auf Ebe­ne des ein­zel­nen Teams ist das Eine, Agi­li­tät der gesam­ten Orga­ni­sa­ti­on das Ande­re. Die Anpas­sungs­fä­hig­keit der Orga­ni­sa­ti­on ist aber der Schlüs­sel, um in den heu­ti­gen glo­ba­len, hoch-ver­net­zen und dadurch extrem schnel­len Märk­ten die Chan­cen der Digi­ta­li­sie­rung nut­zen zu kön­nen. Nur rei­chen dazu ein paar agi­le Pro­jek­te und ein paar Tisch­ki­cker nicht. Wenn alles ande­re tay­lo­ris­tisch-hier­ar­chisch bleibt, ist das biss­chen agil und hip genau­so effek­tiv als ob man auf der Tita­nic die Lie­ge­stüh­le deko­rier­te, um es mit den Wor­ten von Richard David Precht zu sagen. Ech­te Agi­li­tät auf Ebe­ne der gesam­ten Orga­ni­sa­ti­on braucht mög­lichst auto­no­me und dezen­tra­le Ein­hei­ten, die nah am Kun­den schnell ent­schei­den kön­nen und dür­fen. Auch und gera­de außer­halb der Soft­ware­bran­che fin­den sich erstaun­li­che Bei­spie­le agi­ler und anpas­sungs­fä­hi­ger Orga­ni­sa­tio­nen, die ich hier immer wie­der vor­stel­len will. Den Anfang macht die Pfle­ge­or­ga­ni­sa­ti­on Buurtz­org in den Niederlanden.

Nach über zehn Jah­ren in ande­ren Pfle­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen war es Jos de Blok 2006 leid, dass die Pfle­ge von Men­schen zum indus­tria­li­sier­ten Pro­dukt ver­kom­men war und er sich sei­nen Pati­en­ten dadurch nicht mehr ange­mes­sen wid­men konn­te. Des­halb grün­de­te er Buurtz­org und star­te­te damit eine Revo­lu­ti­on. Buurtz­org ist kom­pro­miss­los auf das Wohl der pfle­ge­be­dürf­ti­gen Kun­den aus­ge­rich­tet. Jos de Blok setzt dabei kon­se­quent auf Dezen­tra­li­sie­rung. Ein Team bei Buurtz­org besteht aus 10 – 12 Pfle­ge­kräf­ten, die 40 – 50 Men­schen in ihrem klar defi­nier­ten Nach­bar­schafts­be­reich voll­um­fäng­lich betreu­en. Die Pfle­ge­kräf­te bei Buurtz­org sind alle Gene­ra­lis­ten in Bezug auf die ver­schie­de­nen Krank­heits­bil­der genau­so wie in Bezug auf die Orga­ni­sa­ti­on ihrer Arbeit. Sie pla­nen und orga­ni­sie­ren die Pfle­ge selbst, füh­ren Bewer­bungs­ge­sprä­che, mie­ten Büros, pla­nen Schu­lun­gen und vie­les mehr, wo der typi­sche Con­trol­ler sofort ver­schwen­de­te Syn­er­gien wit­tert. Bei Buurtz­org in den Nie­der­lan­den arbei­ten so mitt­ler­wei­le mehr als 10.000 Mit­ar­bei­ter in 850 Teams. Unter­stützt wer­den sie dabei von einem sehr schlan­ken Back­of­fice mit 45 Mit­ar­bei­tern plus 15 Coa­ches und null Mana­gern (vgl. Buurtz­org). Statt Hier­ar­chie setzt Jos de Blok auf die Ver­net­zung der Teams unter ande­rem im flo­rie­ren­den Social Intra­net von Buurtzorg.

I belie­ve in cli­ent-cen­te­red care, with nur­sing that is inde­pen­dent and col­la­bo­ra­ti­ve. The com­mu­ni­ty-based nur­se should have a cen­tral role – after all they know best how they can sup­port spe­ci­fic cir­cum­s­tances for the client.
Jos de Blok

Die Ergeb­nis­se sind erstaun­lich. In nur 10 Jah­ren wuchs Buurtz­org von einer ver­rück­ten Idee auf über 10.000 Mit­ar­bei­ter allein in den Nie­der­lan­den und ist dar­über­hin­aus mitt­ler­wei­le in 24 Län­dern tätig. Die Kun­den­zu­frie­den­heit ist deut­lich höher als bei ande­ren Pfle­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen genau­so wie die Mit­ar­bei­ter­zu­frie­den­heit. Und das alles bei signi­fi­kant gerin­ge­ren Kos­ten: Eine Stu­die von Ernst & Young berech­ne­te 2010 Ein­spa­run­gen von beacht­li­chen 40% für das nie­der­län­di­sche Gesund­heits­sys­tem und eine wei­te­re Stu­die von KPMG bestä­tig­te in 2012: „Inde­ed, by chan­ging the model of care, Buurtz­org has accom­plished a 50 per­cent reduc­tion in hours of care, impro­ved qua­li­ty of care and rai­sed work satis­fac­tion for their employees (vgl. Buurtz­org). Mehr dazu von Jos de Blok selbst.

Buurtz­org ist ein beein­dru­cken­des Bei­spiel für maxi­ma­le Kun­den­ori­en­tie­rung durch kon­se­quen­te Dezen­tra­li­sie­rung. Frei­lich ergibt sich die­se Struk­tur recht natür­lich aus dem regio­na­len Cha­rak­ter der Arbeit einer Pfle­ge­or­ga­ni­sa­ti­on. Trotz­dem brauch­te es einen genau­so muti­gen wie idea­lis­ti­schen Unter­neh­mer wie Jos de Blok, um genau das aus­zu­nut­zen – zum Vor­teil der Men­schen und der Gesell­schaft. Die­ses Mus­ter der Dezen­tra­li­sie­rung der Orga­ni­sa­ti­on in auto­no­me Teams mit maxi­ma­ler Kun­den­ori­en­tie­rung fin­det sich aber auch in vie­len ande­ren agi­len Orga­ni­sa­tio­nen, bei­spiels­wei­se in Form der Mini-Fabri­ken beim fran­zö­si­schen Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer FAVI. Das ist aber eine ande­re Geschich­te, die einen eige­nen Arti­kel ver­dient hat.



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5 Kommentare

Sabine 9. August 2017 Antworten

Lie­ber Mar­cus, wie­der ein­mal – Dan­ke für das inspi­rie­ren­des Bei­spiel, das ein tol­les Role­mo­del für tra­di­tio­nel­le Unter­neh­men sein könn­te, wobei ich zwei kri­ti­sche Erfolgs­mo­men­te erken­ne, die wir mit 100 und mehr Jah­ren Unter­neh­mens­ge­schich­te und 100.000 und mehr MA-Unter­neh­men (BMW, Sie­mens et al) lösen müssen:
1. Eine Grün­dung bie­tet immer die Chan­ce, Menschen/Mitarbeiter auf EIN Ziel ein­zu­schwö­ren. Die­ses EINE GEMEINSAME Ziel (heut­zu­ta­ge heisst es gern auch Pur­po­se) schafft glau­be ich eine extrem hohe Bereit­schaft, gemein­sa­me The­men mit maxi­ma­ler Sach­ori­en­tie­rung auf Basis von Kol­la­bo­ra­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on zu lösen – und nicht auf Basis von his­to­risch gewach­se­nen, (hier­ar­chi­schen) Ver­kehrs­re­geln (Pro­zes­se). Das müs­sen wir an ganz vie­len Stel­len im tra­di­tio­nel­len Unter­neh­men erst noch lernen.
2. Die gesam­te Füh­rungs­sys­te­ma­tik in tra­di­tio­nel­len Unter­neh­men ist his­to­risch Rich­tung Manage­ment gewandt, nicht Rich­tung Mit­ar­bei­ter. Ein Kol­le­ge Eures Wett­be­wer­bers sagt neu­lich mal, er sieht sei­nen Job als FK mit 60 MA dar­in, die­sen die Stei­ne aus dem Weg zu neh­men, damit die ihre Arbeit machen kön­nen. Das fand ich super, aber es ist noch die Aus­nah­me. (Oder wie Fritz der gros­se sagte:Ich bin der ers­te Die­ner mei­nes Staates…;-D): Bei allen Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons-Erfol­gen, die ich in unse­rem Unter­neh­men ken­ne (sie­he z.B. „Ihr baut Eure eige­ne Fabrik“) zeich­nen sich die jewei­li­gen FKs bereits heu­te durch die­ses Selbst­ver­ständ­nis aus. Ich mei­ne: Dar­an kön­nen und müs­sen wir arbei­ten-dann klapp­t’s auch mit der Selbst­or­ga in Konzernen…(Aber, auch klar: Der Weg zu einem neu­en Selbst­ver­ständ­nis in Bezug auf Ziel/Zweck, Füh­rungs­ver­ständ­nis und Wer­te ist lang, weit und mühsam…das wird uns die nächs­ten Jah­re beschäf­ti­gen und erle­digt sich nicht von selbst…)

Marcus Raitner 9. August 2017 Antworten

Lie­be Sabi­ne, vie­len Dank für Dei­nen weit­sich­ti­gen und berech­tig­ten Kom­men­tar. Tat­säch­lich gibt es nicht so vie­le Bei­spie­le, die den Über­gang von dem alten hier­ar­chi­schen Modell in das neue dezen­tra­le-auto­no­me Netz­werk­mo­dell geschafft haben. FAVI ist da eigent­lich das ein­zig gute Bei­spiel (dazu schrei­be ich aber noch einen eige­nen Arti­kel). Und die hat­ten es in Bezug auf Dei­nen Punkt 1. als klei­ner Zulie­fe­rer deut­lich ein­fa­cher als die gro­ßen Indus­trie­kon­zer­ne, weil sich das gemein­sa­me Ziel ein­fa­cher dem ein paar hun­dert als bei hun­dert­tau­send Mit­ar­bei­tern her­stel­len lässt. Und damit sind wir schon bei der neu­en Rol­le der Füh­rung jen­seits des ver­wal­ten­den Manage­ments, über die ich ja auch so ger­ne schrei­be. Auch ich ken­ne gute Bei­spie­le von Füh­rungs­kräf­ten, wie Du sie beschreibst, die es als ihre Auf­ga­be begrei­fen, ihre Mit­ar­bei­ter erfolg­reich zu machen. Auch hier weiß ich nicht, ob wir den Über­gang vom alten ins neue Modell mit den­sel­ben Men­schen schaf­fen. Jean-Fra­çois Zobrist hat das bei FAVI ganz radi­kal gemacht und alle Manage­ment­po­si­tio­nen abge­schafft. Wer sich in der neu­en Struk­tur wert­schöp­fend ein­brin­gen könn­te blieb, der Rest ging. Wie­der­um im Klei­nen viel ein­fa­cher als im Gro­ßen. Den­noch, wer Anpas­sungs­fä­hig­keit als Unter­neh­men will (und wer will nicht über­le­ben?), kommt an einem gewis­sen Maß an Dezen­tra­li­sie­rung und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on nicht vor­bei. Das woll­te ich mit dem Bei­spiel von Buurtz­org zeigen.

Sabine 9. August 2017 Antworten

100% bei Dir, trotz oder gera­de wegen der Unter­schie­de müs­sen wir die Mecha­nik die­ser Bei­spie­le ver­ste­hen und probieren,was sich im gros­sen Frame wenn auch punk­tu­ell imple­men­tie­ren lässt! Daher noch­mal dan­ke und auf die nächs­te Sto­ry freue ich mich auch schon!

Roland Dürre 11. August 2017 Antworten

Hi Mar­cus, ich habe ja den Ard Leverink getrof­fen und ange­neh­me Stun­den mit ihm ver­bracht. Das Bes­te: Buurtz­org hat die Visi­on die­sen Erfolg mit „selbst­ver­wal­te­ten agi­len frei­en Schu­len zu wie­der­ho­len. In drei Jah­ren wol­len sie damit starten.

Marcus Raitner 11. August 2017 Antworten

Dar­um benei­de ich Dich ein wenig, lie­ber Roland. Er soll sich ger­ne mit den Schu­len beei­len, unse­re Gro­ße ist immer­hin schon drei ;-)

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