Die erfolgreiche Zusammenarbeit im Zeitalter der Wissensarbeit, insbesondere in agilen Organisationen mit ihrem hohen Grad an Selbstorganisation und Eigenverantwortung, hängt maßgeblich vom zugrundeliegenden Menschenbild ab. Douglas McGregor forderte bereits 1963 in seinem Buch „The Human Side of Enterprise“, dass wir Menschen nicht länger als faul und arbeitsscheu (Theorie X), sondern als intrinsisch motiviert und leistungsbereit (Theorie Y) betrachten sollten. McGregor stützt sich dabei auf die Vorarbeiten von Abraham Maslow, die in Form der nach ihm benannten Bedürfnispyramide aus der Managementliteratur mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind. Diese Darstellung als Pyramide ist aber eine irreführende Interpretation, die gar nicht von Maslow selbst stammt.
Die „Bedürfnispyramide“
Abraham Maslow gliederte 1943 in seinem vielzitierten Artikel „A Theory of Human Motivation“ menschliche Bedürfnisse in verschiedene Kategorien und brachte diese in eine Rangfolge. Die Basis bilden elementare physiologische Bedürfnisse wie Essen und Trinken. Ihnen folgen grundlegende Bedürfnisse nach körperlicher und seelischer Sicherheit und einer materiellen Grundsicherung. Als nächstes kommen soziale Bedürfnisse wie Zugehörigkeit, Freundschaft und Kommunikation und anschließend Individualbedürfnisse zu denen Maslow Vertrauen, Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit zählt.
Diese ersten vier nennt Maslow Mangelbedürfnisse, weil die Nichterfüllung einerseits zu körperlichen oder seelischen Schäden führt und andererseits aber die Übererfüllung dieser Bedürfnisse ab einem gewissen Sättigungsgrad keinen zusätzlichen Nutzen mehr bringt. Demgegenüber sieht er in der Selbstverwirklichung, also dem Streben des Menschen seine Talente, Potenziale und Kreativität zu entfalten, sich weiterzuentwickeln, sein Leben zu gestalten und ihm einen Sinn zu geben, ein prinzipiell unstillbares Wachstumsbedürfnis.
Man is a perpetually wanting animal.
Abraham Maslow: A Theory of Human Motivation, 1943
Diese Bedürfnisse bauen laut Maslow aufeinander auf, aber nirgendwo in seinen Arbeiten steht, dass erst die Bedürfnisse auf niedrigerer Stufe 100% erfüllt sein müssen, damit die auf der nächsten Stufe relevant werden (vgl. diesen kürzlich erschienenen Artikel oder diese Zusammenfassung davon). Genau das suggeriert aber die Darstellung als Pyramide und deshalb wird in vielen Seminaren und Büchern die Idee von Maslow immer noch und immer wieder in dieser Weise fehlinterpretiert. Und das obwohl Maslow selbst im Originalartikel von 1943 genau dies konkret anspricht:
So far, our theoretical discussion may have given the impression that these five sets of needs are somehow in a step-wise, all-or-none relationship to each other. We have spoken in such terms as the following: ‚If one need is satisfied, then another emerges.‘ This statement might give the false impression that a need must be satisfied 100 per cent before the next need emerges.
Abraham Maslow: A Theory of Human Motivation, 1943
Die etwas statische Darstellung der Bedürfnisse als Pyramide wird der Komplexität und Dynamik menschlicher Bedürfnisse einfach nicht gerecht. Sie ist eine unzulässige Vereinfachung, die sich trotzdem oder gerade deswegen leider weit verbreitet hat. Tatsächlich sind die Bedürfnisse in verschiedener Intensität immer gleichzeitig vorhanden.
Wertschöpfung durch Wertschätzung
Freilich kann man trotzdem der Meinung sein, dass Organisationen und insbesondere Unternehmen in der freien Wirtschaft nicht für alle diese individuellen Bedürfnisse verantwortlich fühlen müssen. Niemand würde es heute so deutlich sagen wie Henry Ford, der sich nur die menschliche Arbeitskraft wünschte und den Rest mürrisch in Kauf nahmen („Why is it every time I ask for a pair of hands, they come with a brain attached?“), aber in den meisten Organisationen ist allerspätestens bei den Individualbedürfnissen wie Vertrauen, Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit Schluss.
Vielerorts gelangt man aber gar nicht in diese Sphären. Meist kann man sich glücklich schätzen, wenn wenigstens die sozialen Bedürfnisse befriedigt werden durch nette Kollegen und gute Teamarbeit. Durch schädliche Bewertungs- und Anreizsysteme, die mehr auf individuelle Konkurrenz als auf Kooperation abzielen, ist aber zuweilen nicht einmal das gegeben und es bleibt einfach nur ein Job um das Haus abzuzahlen. Kein Wunder, dass Menschen das nicht motiviert und sie mit immer raffinierteren Anreizsystemen zur Leistung angespornt werden müssen.
Ohne Menschen keine Wirtschaft. Folglich ist der Mensch immer Zweck und die Wirtschaft nur Mittel – und nicht umgekehrt.
Götz W. Werner
Die Resultate dieser Haltung sind bekannt und können Jahr für Jahr zum Beispiel im Gallup Engagement Index abgelesen werden. Auch 2018 machten in deutschen Unternehmen 71% der Mitarbeiter Dienst nach Vorschrift, 14% hatten sogar innerlich gekündigt und nur 15% waren wirklich mit Herz und Seele bei der Arbeit. Folgt man den Ausführungen von Maslow zu den menschlichen Bedürfnissen und dem darauf aufbauenden Menschenbild von McGregor, dann liegt das aber weniger an den Menschen, sondern an der Art und Weise wie wir Organisationen gebaut haben. Oder anders gesagt: Wer Organisationen wie Maschinen baut und Menschen wie Zahnrädchen darin einsetzt (und verschleißt), kann bestenfalls Dienst nach Vorschrift erwarten.
Ich kann Ihnen versichern, dass es einen Ort gibt, an dem Ihre Mitarbeiter kreativ tätig sind, nur ist dieser Ort möglicherweise nicht ihr Arbeitsplatz.
Gary Hamel: The Future of Management.
Die Mitarbeiter suchen die Erfüllung ihrer unerfüllten Bedürfnisse dann eben jenseits ihres Arbeitsplatzes, in der Familie, in Vereinen, in Hobbies und in vielem mehr. Damit geht aber unglaublich viel individuelles Potenzial für die Organisation verloren. Es würde sich also durchaus unter dem Strich rechnen, Mitarbeitern jenseits des Diensts nach Vorschrift Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung und letztlich ihrer Selbstverwirklichung zu bieten. Ein guter Startpunkt dafür wäre das Hinterfragen des in der Kultur der Organisation propagierten Menschenbilds und darauf aufbauend die Gestaltung eines geeigneten Rahmens, in dem sich Menschen besser entfalten können. Dieser Traum einer menschenwürdigeren Arbeitswelt lässt mich nicht los und genau deshalb ist mir das Manifest für menschliche Führung (auch erhältlich als Taschenbuch bei Amazon) so wichtig.
8 Kommentare
Danke Dir, Marcus. Wieder einmal.
Jenseits des Strafrechts wird Motivation meiner Ansicht nach vollkommen überbewertet.
Wenn man ein System so gestaltet, dass es optimal (nicht maximal!) wirkt, dann stellt sich die Frage nach der Motivation nicht. Sie ist schlicht und einfach da.
Das Problem ist:
nur die wenigsten sind in der Lage, ein solches System zu erschaffen.
Wieder andere wollen ein solches System aus vielen Gründen gar nicht.
Diejenigen, die dann noch übrig bleiben, sind diejenigen, mit denen man ein solches System erschaffen kann.
Je nach Modell und Studie, der man Glauben schenken mag, sind das 2 bis 5% aller.
Die ermutigende Nachricht daran ist: wenn es diesen 2 bis 5 Personen gelingt, zusammenzuwirken, dann haben die übrigen 95 bis 98 Personen ein System, das sie erleben und sich daran ein Beispiel nehmen können.
So: Keep the Faith!
Vielen Dank, Alexander. Das „alte“ System ist ja auch irgendwie entstanden. Und insofern können einige „Verrückte“ sicherlich auch ein neues besseres schaffen, das sich hoffentlich aufgrund der Überlegenheit durchsetzt.
Das Dogma mit den zu 100 % aufeinander aufbauenden Bedürfnissen hat mich schon immer irritiert. Neu für mich: So hat das ja Maslow gar nicht gemeint.
Die etwas dynamischere Darstellung der Bedürfnisse (dein an Wikipedia angelehntes Bild) erscheint mir schlüssiger als die Pyramide.
Hinzu kommt: Unsere Bedürfnis-Prioritäten verändern sich nicht nur mit der Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch mit der Lebensphase oder besser der konkreten Lebenssituation. Beispiel: Jemand, der bisher vor allem durch Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung angetrieben wurde, wird sich vermutlich wieder stärker an Sicherheitsbedürfnissen ausrichten, sobald sie/er Mutter oder Vater geworden ist – ganz gleich, ob mit Anfang 20 oder Anfang 40. Deshalb wäre gut, wenn Führende auch die konkrete Situation und die konkreten Bedürfnisse ihrer Anvertrauten im Blick haben.
Vielen Dank für den anregenden Blogpost, Marcus.
Vielen Dank für Deine Anerkennung und Deine ergänzenden Gedanken, liebe Christine.
Vielleicht interessiert Sie mein Menschenbild. Ergebnis von 35 Jahren intensiver Arbeit als Didaktiker und Aktionsforscher. Und heute gründe ich sogar auf dieser Basis eine neue Partei „Neue Menschenrechte“: https://jeanpol.wordpress.com/2018/10/24/ein-modernes-menschenbild-fuer-das-21-jh/
Vielen Dank, sehr interessant.
Lieber Marcus,
vielen Dank für deine Artikel, auf den ich durch Zufall gestoßen bin. Hat nochmal einige Erinnerungen an das Psychologie-Studium geweckt und zeigt so schön einfach, wie komplex das Thema Motivation ist und wie wichtig es ist, dieses im Unternehmen nachhaltig und reflexiv anzugehen.
Liebe Grüße
Vielen Dank, liebe Katja. Ja, das Thema ist unglaublich komplex, wie Menschen nun mal sind. Was freilich viele Unternehmen nicht daran hindert trotzdem recht einfältige und durchsichtige Motivationsmittelchen einzusetzen …