Spaltmaßfixierung und Startup-Kultur

Verän­de­rung liegt in der Luft. Neue Wett­be­wer­ber mit neu­en digi­ta­len Geschäfts­mo­del­len oder viel­leicht nur mit Ideen von sol­chen Geschäfts­mo­del­len bre­chen in sicher geglaub­te Bas­tio­nen deut­scher Per­fek­ti­on und Prä­zi­si­on ein. Die Reak­tio­nen der tra­di­tio­nel­len Unter­neh­men rei­chen von Angst über Arro­ganz zu Ableh­nung und Tech­nik­feind­lich­keit. Vie­le tra­di­tio­nel­le Unter­neh­men spü­ren aller­dings, dass sie sich ver­än­dern müs­sen, wenn sie über­le­ben wol­len. Dabei steht uns in Deutsch­land unse­re bis­he­ri­ge Stär­ke im Weg. Per­fekt soll es sein. Weni­ger ist uns nicht genug. „Fail fast, fail cheap“ hat für deut­sche Inge­nieu­re und Mana­ger immer auch den Bei­geschmack der Schlam­pig­keit an der Gren­ze zur Ver­let­zung der Sorgfaltspflicht.

Die Neu­en sind unbe­las­tet von den gewach­se­nen Struk­tu­ren und Kul­tu­ren. Inno­va­tio­nen wer­den nicht gehemmt durch lang­wie­ri­ge Pla­nungs- und Geneh­mi­gungs­pro­zes­se. Lie­ber schnell aus­pro­bie­ren, wie ein Pro­dukt oder eine Dienst­leis­tung ankommt und es dann auf dem Weg durch Ver­such und Irr­tum ver­bes­sern. Lan­ge Ent­wick­lungs­zy­klen ohne Kun­den­feed­back sind Start­ups ein Graus. In unse­ren tra­di­tio­nel­len deut­schen Unter­neh­men aber muss es per­fekt sein, wenn es der Kun­de sieht, dar­un­ter machen wir es nicht. „Spalt­maß­fi­xie­rung“ nann­te Sascha Lobo neu­lich die­sen typisch deut­schen Per­fek­tio­nis­mus, der uns einer­seits groß gemacht hat, uns aber ande­rer­seits jetzt ausbremst.

Her­kömm­li­che Unter­neh­men set­zen auf Hier­ar­chien, ope­rie­ren in Silos, arbei­ten mit Leit­li­ni­en, defi­nier­ten Rol­len und Pro­zes­sen sowie aus­ge­feil­ten Pla­nungs­sys­te­men. Sie gewähr­leis­ten, was eta­blier­te Unter­neh­men sicher­stel­len müs­sen: effi­zi­ent und sta­bil ein Stan­dard­ge­schäft durch­zu­steu­ern. Das ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, die gar nicht hoch genug zu bewer­ten ist. Aber sol­che Orga­ni­sa­tio­nen tun sich schwer damit, stra­te­gi­sche Chan­cen und Risi­ken schnell zu erken­nen und dar­auf zu reagie­ren. Wenn Sie wis­sen wol­len, wie man intel­li­gen­te, inno­va­ti­ve Ent­schei­dun­gen unbü­ro­kra­tisch trifft und schnell umsetzt, müs­sen Sie sich erfolg­rei­che Start­ups anschau­en. Die haben nichts außer ihrer Agi­li­tät. Und die ver­dan­ken sie ihren Netzwerkstrukturen.
John Kot­ter

Nun ist gegen prä­zi­se Spalt­ma­ße im Beson­de­ren und gegen Per­fek­ti­on und Qua­li­tät im All­ge­mei­nen rein gar nichts ein­zu­wen­den. Inner­halb unge­sät­tig­ter Märk­te und defi­nier­ter Pro­dukt­ka­te­go­rien wur­de Deutsch­land damit zum Wirt­schafts­wun­der­land und Export­welt­meis­ter. Die­ser Arbeits­mo­dus der Effi­zi­enz und Sta­bi­li­tät ist jedoch unge­eig­net, um völ­lig neue Pro­dukt­ka­te­go­rien in gesät­tig­ten Märk­ten mit völ­lig neu­en Geschäfts­mo­del­len zu erschaf­fen. Den dafür not­wen­di­gen Modus der Agi­li­tät müs­sen eta­blier­te Unter­neh­men zusätz­lich erler­nen (und die agi­len Start­ups natür­lich zusätz­lich den Modus der effi­zi­en­ten und sta­bi­len Pro­duk­ti­on, was aber ein­fa­cher ist, weil nur klas­si­sches Manage­ment). Ansons­ten opti­mie­ren sie Pro­duk­te in Kate­go­rien, die kei­nen mehr inter­es­sie­ren. Kod­ak, Nokia und die Her­stel­ler von Pfer­de­kut­schen wel­che exis­tenz­be­dro­hen­den Fol­gen das haben kann.

Wir brau­chen bei­des in Orga­ni­sa­tio­nen: Sta­bi­li­tät und Agi­li­tät, Hier­ar­chien und Netz­wer­ke. Wir brau­chen das, was ich ein “dua­les Betriebs­sys­tem” für Unter­neh­men nen­ne. In Euro­pa nei­gen Unter­neh­men dazu, bei­de Wel­ten strikt von­ein­an­der zu tren­nen. Sie grün­den Inku­ba­to­ren oder Spe­zi­al­ein­hei­ten, die weit weg vom Stan­dard­ge­schäft ope­rie­ren und sich mit Inno­va­ti­on oder stra­te­gi­schem Wan­del beschäf­ti­gen. So wur­den Gene­ra­tio­nen von Mana­gern eben instru­iert. Nicht nur in Euro­pa, das gilt welt­weit. Aber das wird sich ändern. Denn hier ent­schei­det sich, wer die Her­aus­for­de­run­gen meis­tern wird und wer nicht.
John Kot­ter

Orga­ni­sa­tio­nen und Men­schen in Orga­ni­sa­tio­nen ändern sich aber nicht von heu­te auf mor­gen. Wer auf Null-Feh­ler und Effi­zi­enz geeicht ist, wird mit „fail fast, fail cheap“ zunächst ein Pro­blem haben. Der Ansatz des dua­len Betriebs­sys­tems von John Kot­ter ist in die­ser Hin­sicht bestimmt anspruchs­voll, aber viel­ver­spre­chen­der als abge­trenn­te Inno­va­tions-Silos zu schaf­fen, wie das bei­spiels­wei­se der Ansatz der bimo­da­len IT vor­schlägt. Außer­dem lässt sich das zwei­te, agi­le Netz­werk-Betriebs­sys­tem schlei­chend ein­füh­ren und ver­brei­ten. Den dafür nöti­gen Kris­tal­li­sa­ti­ons­kern an auf­ge­schlos­se­nen, fähi­gen und pro­gres­si­ven Mit­ar­bei­tern fin­det man immer. Es geht also „nur“ dar­um, sie zu ermäch­ti­gen anders zu arbei­ten und ihnen die nöti­gen Frei­räu­me zu gewähren.



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

4 Kommentare

Hal­lo Marcus,
dan­ke für den anre­gen­den Arti­kel, aber ich muss schon wie­der eine Fra­ge zu Foto stellen:
Wo hast Du denn die­ses Foto her? Ein Käfer ca. Bj 1964 mit „Export-Stoß­fän­ger“ UND LED-Rück­fahr­schein­wer­fer. Ihhhh, wer macht denn sowas?

Habe ich auf Pexels gefun­den https://www.pexels.com/photo/vintage-fusca-carro-velho-azul-64687/ ken­ne mich mit Käfer nicht aus, habe das Foto nur wegen der Far­be gewählt ;-)

Die Glo­ri­fi­zie­rung der Star­tup­men­ta­li­tät geht mir zu weit. Der Groß­teil der Start­ups errei­chen nie die Gewinn­zo­ne und nach 5 spä­tes­tens nach 10 Jah­ren exis­tie­ren über 99% nicht mehr.
Gera­de in den letz­ten Jah­ren habe ich immer wie­der Start­ups mit über 100 Mil­lio­nen-Euro-Bewer­tun­gen in Key­notes gese­hen und dann waren sie teil­wei­se schon im Fol­ge­jahr Pleite.

Stimmt, 9 von 10 Start­ups schei­tern. Aber das zehn­te wiegt die ande­ren mehr als auf. Genau dar­um geht es mir und dar­um, dass wir uns in dem uns eige­nen Per­fek­tio­nis­mus mit dem Schei­tern der neun ande­ren sehr schwertun.

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