Die grausame Seite der Agilität

Sich ange­sichts kom­ple­xer Pro­ble­me nach ein­fa­chen Lösun­gen auf der indi­vi­du­el­len Ebe­ne zu seh­nen mag ver­ständ­lich sein und opti­mis­tisch wir­ken, ist im Grun­de aber nur grau­sam, weil das sehr wahr­schein­li­che Schei­tern dem Indi­vi­du­um und sei­nem „Mind­set“ zuge­schrie­ben wird.

Da hät­ten wir also Sitz­sä­cke im Büro, einen Tisch­ki­cker in der Kaf­fee­kü­che und die bun­ten Haft­zet­tel kle­ben an der Wand. Die Auf­ga­ben dar­auf habt ihr selbst­stän­dig im Team ver­teilt. Ihr durf­tet ganz allein bestim­men, wie viel aus eurem Back­log für die­ses Jahr ihr in dem aktu­el­len Sprint schaf­fen wer­det. Sogar einen Scrum-Mas­ter haben wir enga­giert. Der mode­riert jetzt täg­lich euer Dai­ly und aktua­li­siert den Sta­tus in JIRA. Was übri­gens gar nicht ein­fach ist, weil natür­lich nicht immer alle Zeit für das Dai­ly haben wegen diver­ser Ver­pflich­tun­gen in ande­ren Pro­jek­ten. Das ist zuge­ge­be­ner­ma­ßen nur ein ers­ter agi­ler Pilot in unse­rer Abtei­lung und der eine oder ande­re Pro­zess außen her­um ist noch schwer­fäl­lig, aber im Gro­ßen und Gan­zen gibt es kei­nen Grund, sich nicht so pro­duk­tiv und erfüllt wie bei Spo­ti­fy zu füh­len. Ihr müsst es nur wol­len. Alles nur ein Fra­ge des rich­ti­gen agi­len Mindsets!

Oder doch nicht?

Wer sich zu dick fühlt, soll ein­fach eine Diät und mehr Sport machen. Wer zu viel Zeit am Smart­phone und auf Social Media ver­bringt, greift zu Digi­tal Detox und ver­än­dert die Ein­stel­lun­gen sei­nes Smart­phones. Wer sich gestreßt fühlt, lädt sich eine App und lernt medi­tie­ren. Wer sei­ne Arbeits­zeit mit E‑Mail, Slack und Mee­tings ver­geu­det, muss eben ler­nen, sich bes­ser zu orga­ni­sie­ren. Und wer es nicht vom Tel­ler­wä­scher zum Mil­lio­när bringt, ist selbst schuld. Mit der nöti­gen Dis­zi­plin geht alles. Schließ­lich gibt es genü­gend Men­schen, die die­se Her­aus­for­de­run­gen erfolg­reich bewäl­tigt haben.

Die­se eigent­lich opti­mis­ti­sche Sicht­wei­se ist auf per­fi­de Wei­se grau­sam. Sie blen­det die tie­fe­ren sys­te­mi­schen Ursa­chen der gro­ßen kul­tu­rel­len Pro­ble­men, wie Burn­out, Depres­si­on, Ablen­kung durch die Auf­merk­sam­keits­in­dus­trie und vie­les mehr, ein­fach aus und bie­tet dem Indi­vi­du­um schein­bar ein­fa­che Lösungs­mög­lich­kei­ten. Zwar gibt es immer auch Men­schen bei denen die­se Lösun­gen den ver­spro­che­nen Nut­zen gezeigt hat­ten, aber bei den meis­ten müs­sen die­se Patent­re­zep­te ver­sa­gen, weil sie auf der fal­schen Ebe­ne anset­zen. Die His­to­ri­ke­rin Lau­ren Ber­lat präg­te dafür im gleich­na­mi­gen Buch (Ber­lat, 2011) den Begriff des grau­sa­men Opti­mis­mus, den Johann Hari in (Hari, 2022, S. 143) so beschreibt: 

This is when you take a real­ly big pro­blem with deep cau­ses in our cul­tu­re – like obe­si­ty, or depres­si­on, or addic­tion – and you offer peo­p­le, in upbeat lan­guage, a sim­pli­stic indi­vi­du­al solu­ti­on. It sounds opti­mi­stic, becau­se you are tel­ling them that the pro­blem can be sol­ved, and soon – but it is, in fact, cruel, becau­se the solu­ti­on you are offe­ring is so limi­t­ed, and so blind to the deeper cau­ses, that for most peo­p­le, it will fail.

Johann Hari

Das Gegen­teil von gut ist gut gemeint. Die­se ein­fa­chen Lösun­gen, die Sitz­sä­cke und das biss­chen agi­le Thea­ter mögen gut gemeint sein, gehen aber am Kern der Pro­ble­me vor­bei und schie­ben gleich­zei­tig die Schuld für das Schei­tern dem Indi­vi­du­um oder dem Team zu. Ein­mal mehr zeigt sich, wie Recht Theo­dor W. Ador­no hat­te: „Es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen.“

Referenzen

Ber­lant, Lau­ren Gail. Cruel Opti­mism. Duke Uni­ver­si­ty Press, 2011.

Hari, Johann. Sto­len Focus: Why You Can’t Pay Atten­ti­on. Bloomsbu­ry Publi­shing, 2022.

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

4 Kommentare

Es mag nicht ein­fach sein. Doch das ent­hebt das Indi­vi­du­um nicht sei­ner „Mit­tä­ter­schaft“, sei­ner Verantwortung.

Der Weg aus der Sucht beginnt mit ihrer Aner­kennt­nis und der Über­nah­me der Selbst­ver­ant­wor­tung. Johann Hari hat auch gesagt: „It‘s not the drug, it‘s the cage.“ Aber die­ser Käfig, der sei­ne Gefan­ge­nen süch­tig nach der Dro­ge macht, ist eben nicht einer, in die Gefan­ge­nen gewalt­sam gesteckt wur­den. Burn-out od eine wg Arbeits­last zer­bre­chen­de Ehe sind kein Schick­sal, son­dern – und das ist hart für die Lei­den­den ein­zu­se­hen – min­des­tens Ergeb­nis­se einer Coevolution.

Wenn es bes­ser wer­den soll, ist der Start­punkt des­halb am bes­ten beim Indi­vi­du­um gewählt, das Schmer­zen emp­fin­det. Nur da sind Ver­hält­nis­se unter Kon­trol­le: inne­re Hal­tung und unmit­tel­ba­re Umge­bung. Radi­ka­le Selbstverantwortung!

Dass die am Anfang vllt etwas För­de­rung u For­de­rung ver­trägt, als for­ma­le Erwach­sen­heit nicht bedeu­tet, wirk­lich in die­ser Wei­se erwach­sen zu sein, ist selbst­ver­ständ­lich. Aber es ändert nichts dar­an, dass es eine Ret­tung nur in Selbst­ver­ant­wor­tung gibt.

Herz­li­chen Dank für dei­ne Ergän­zung und dei­nen Blick­win­kel, lie­ber Ralf. Ich woll­te auch nicht zum Aus­druck brin­gen, dass wir aus­schließ­lich Opfer der Umstän­de sind und macht­los. Im Gegen­teil braucht es die Ein­sicht und Initia­ti­ve auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne. Aber eben nicht in die­ser ver­ein­fach­ten die Umstän­de negie­ren­den Wei­se wie es oft sug­ge­riert wird.

Lie­ber Mar­cus, vie­len Dank für dei­nen neu­en Arti­kel. Mir ist es zu ein­fach dar­ge­stellt, denn ja ich fin­de auch, dass man die Schuld nicht auf die ein­zel­ne Per­son abwäl­zen kann. Nichts­des­to­trotz ändert sich nichts, wenn die ein­zel­ne Per­son nichts ändert. Agi­le Struk­tu­ren ein­zu­füh­ren ist rela­tiv „ein­fach“. Wenn es aber dann dar­um geht es wirk­lich zu leben, geht es an Ver­hal­tens­än­de­run­gen, Glau­bens­än­de­run­gen usw. Und mei­ner Mei­nung nach fängt hier die Arbeit an, denn die Per­so­nen müs­sen gut beglei­tet wer­den und die Ver­än­de­rung auch wol­len. Ohne Wil­len, kein Coa­ching und Beglei­tung! Und oft stel­le ich in Ein­zel­ge­sprä­chen fest, dass sehr viel Unzu­frie­den­heit, Druck, Angst usw. da ist, die man nicht allei­ne lösen kann, son­dern im sys­te­mi­schen Wan­del des jewei­li­gen Kon­tex­tes. Und da müs­sen dann wie­der alle / vie­le dran um einen Tip­ping Point zu errei­chen. Und gera­de hier sehe ich die Ver­ant­wor­tung bei den ein­zel­nen, den Wil­len und die Dis­zi­plin auf­zu­brin­gen, alte (evtl. „schäd­li­che“) Mus­ter zu lösen und für ein gemein­sa­mes Bes­ser aktiv zu wer­den. Ich freu mich auf dei­ne Antwort!

Lie­be Anna, ja es ist ver­ein­facht dar­ge­stellt (s. auch die Ant­wort auf Ralfs Kom­men­tar). Es braucht bei­des: Die indi­vi­du­el­le Initia­ti­ve und Bereit­schaft und struk­tu­rel­le und sys­te­mi­sche Ansät­ze. Nur indi­vi­du­ell vor­zu­gau­keln ist grau­sam; nur struk­tu­rell ist wirkungslos.

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