Organisationen bestehen aus Menschen und Menschen neigen zu vielerlei kognitiven Verzerrungen. Eine davon ist der Dunning-Kruger-Effekt (Wikipedia), den die beiden Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger erstmals in ihrem 1999 erschienen Artikel beschrieben. Im Kern besagt der Dunning-Kruger-Effekt, dass wenig kompetente Menschen dazu tendieren, sich selbst deutlich zu überschätzen und folglich auch nicht in der Lage sind die überlegenen Fähigkeiten wirklich kompetenter Menschen richtig einzuschätzen.
Wenn man inkompetent ist, kann man nicht wissen, dass man inkompetent ist […] Die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um eine richtige Antwort zu geben, sind genau die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um zu erkennen, was eine richtige Antwort ist.
David Dunning
Der Dunning-Kruger-Effekt führt zu vielerlei hitzigen Diskussionen in sozialen Medien, denn in Zeiten von Google kann sich jeder ein wenig Basiswissen aneignen und sich damit sehr schnell für sehr kompetent halten. Ein tiefes und nachhaltiges Verständnis eines Themas und echte Könnerschaft erreicht man aber erst, wenn man den Gipfel der Dummheit hinter sich lässt.
Der erste Schritt dahin ist die Erkenntnis des Nicht-Wissens, so wie es Sokrates zugeschrieben wird: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“ Ganz bewusst steht hier „nicht“ statt „nichts“, das ein verbreiteter Übersetzungsfehler aus dem Altgriechischen war. Die Erkenntnis der Grenzen des eigenen Wissens bedeutet für Sokrates ein Stück Weisheit: „Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube“ (Platon: Apologie des Sokrates). Weisheit beginnt nicht mit dem ersten bruchstückhaften Verständnis, sondern erst mit dem Abstieg von diesem Gipfel der Dummheit in das Tal der Verzweiflung.
Es ist freilich das Eine, wenn einzelne Menschen in ihrer Entwicklung diesen Gipfel nicht überwinden und dann vielleicht durch ebenso selbstsichere wie inkompetente Diskussionsbeiträge auffallen. Das Andere und deutlich tragischer ist es aber, wenn ganze Organisationen auf diesem Gipfel der Dummheit in ihrem Bemühen nach Transformation verharren und sich an ihrem formschön zelebrierten Cargo-Kult erfreuen.
In the South Seas there is a cargo cult of people. During the war they saw airplanes land with lots of good materials, and they want the same thing to happen now. So they’ve arranged to imitate things like runways, to put fires along the sides of the runways, to make a wooden hut for a man to sit in, with two wooden pieces on his head like headphones and bars of bamboo sticking out like antennas — he’s the controller — and they wait for the airplanes to land. They’re doing everything right. The form is perfect. It looks exactly the way it looked before. But it doesn’t work. No airplanes land. So I call these things cargo cult science, because they follow all the apparent precepts and forms of scientific investigation, but they’re missing something essential, because the planes don’t land.
Richard Feynman, 1974
Damit es sich Organisationen nicht zu sehr auf dem Gipfel der Dummheit bequem machen, braucht es Menschen, die willens und in der Lage sind, den Status quo immer wieder kritisch zu hinterfragen. Genau das machen Hofnarren und Organisationsrebellen und eröffnen damit den Weg zu einer echten Transformation jenseits des bequemen Gipfels der Dummheit und des Cargo-Kults. Veränderung braucht Störung – ganz besonders dann wenn viele sich nach den ersten Schritten schon am Ziel glauben und sich für ihre Tischkicker, Sneaker und bunten Haftzetteln feiern.
The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure while the intelligent are full of doubt.
Bertrand Russell
6 Kommentare
Hallo Marcus,
wir sind uns einig, dass der Wandel stockt. Ich würde sogar sagen, dass das Verharren eher ein Anzeichen des Zurückgehens zu „Command und Control“ ist.
Das mit der Dummheit sehe ich nicht so. Zudem kann der Vorwurf der Dummheit immer gegenseitig verwendet werden.
LG Eberhard
Danke für deinen Kommentar, Eberhard. Verzeih‘ mir die etwas platte Begrifflichkeit, aber das bot sich als Übersetzung von „Mount Stupid“ einfach an. Ich verstehe aber voll und ganz was du meinst.
Hallo Eberhard,
Du hast richtig beobachtet, daß es ein Zurückgehen zu „Command und Control“ zu geben scheint. Ich mache die Erfahrung, daß gerade junge Mitarbeiter klare Ansagen und Vorgaben fordern und die Bereitschaft eigene ideen umzusetzen und damit intelligent zu fehlen, eher gering ist.
Ich sehe Dummheit auch eher als einen Abgrund, wie Badesalz in ihrem Sketch :-)
Passt aber leider nicht zu der Kurve…
Was mir an diesem Beitrag sofort aufgefallen ist – positiv – war gleich das erste Zitat: auf Deutsch, obwohl aus dem Englischen stammend. Mir fehlt da nichts, danke.
Ich erlaube mir mal, diesen letzten und wirklich großartigen Satz aus diesem Artikel zu ergänzen…
Veränderung braucht Störung – ganz besonders dann wenn viele sich nach den ersten Schritten schon am Ziel glauben und sich für ihre Tischkicker, Sneaker und bunten Haftzetteln feiern…
…oder für die auf ihre Team-Tassen gedruckten Schalgworte: „Be Agile“, „Digital“, „OneTeam“, usw.
Hallo Marcus,
meiner Ansicht nach gebären hierarchische Organisationen per se Irrsinn. Da machen kognitive Verzerrungen oder höchste Weisheit nur das Kultur-Mäntelchen ein bisschen farbiger. Ökonomische Zwänge in solchen Organisationen verstärken die illustren Entartungen nur.
Aber Deine Erläuterung des Dunning-Kruger-Effekts haben mir sehr gut gefallen. Danke.