Eine Shopping-Tour durch den Baumarkt macht noch keinen Handwerker, meine Frau kann das bestätigen. Erst nach vielen Stunden YouTube, zahlreichen Fehlversuchen und erst mit der Unterstützung eines echten Könners als Coach können wir auf eine brauchbare Beherrschung des Handwerks hoffen. Das beste Werkzeugsortiment ist weder hinreichend für echte Könnerschaft noch zu Beginn notwendig. Übung macht den Meister. Der Unterschied zwischen einem guten Handwerker und mir sind mehrere tausend Stunden Übung. Und diesen Unterschied sieht man deutlich – sagt jedenfalls meine Frau.
Wir alle haben die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren. Damit aus dieser Fähigkeit aber auch eine Fertigkeit wird, bedarf es viel Übung und gerade zu Anfang der helfenden Hand und dem Feedback von Eltern. Es reicht nicht, das beste Rad und passendes Equipment im Laden auszusuchen. Fertigkeiten entstehen nur durch Übung. Dabei gibt es sicherlich Übungen, Vorgehen und Strategien, die schneller zur Könnerschaft führen als andere. Stützräder am Fahrrad sind ein Weg, aber die bessere Variante ist es meiner Erfahrung nach, zunächst auf einem Laufrad die Balance einzuüben und dann erst treten, bremsen und schließlich schalten zu erlernen.
Wir lernen durch Irren und Fehlen und werden Meister durch Übung, ohne zu merken, wie es zugegangen ist.
Christoph Martin Wieland
Wenn Fertigkeiten aber schon auf individueller Ebene reine Übungssache sind, gilt dies umso mehr überall dort, wo mehrere oder viele Menschen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten und damit die reibungslose Zusammenarbeit selbst zur Fertigkeit wird. Eine herausragende Fußballmannschaft entsteht nicht einfach durch Verpflichtung erstklassiger Individuen, denen man in einem Webinar die neue Strategie erläutert. Das Miteinander und die Zusammenarbeit benötigen viel Übung, begleitet durch einen erfahrenen Coach. Erst dadurch wird das Ganze mehr als die Summe der Teile.
Prinzipiell haben wir alle die Fähigkeit, selbstorganisiert und agil zusammenzuarbeiten und gemeinsam Schritt für Schritt – oder besser gesagt: Experiment für Experiment – Problemlösungen zu erkunden. Kindergartenkinder können das ganz vortrefflich, weshalb sie bei der Marshmallow-Challenge besser abschneiden als Absolventen von Wirtschaftsunis, Rechtsanwälte oder CEOs. In den Tiefen der funktional optimierten Hierarchien unserer Konzerne fristen diese grundlegenden Fähigkeiten allerdings ein trostloses Dasein. Jeder ist dort nur für den eigenen winzigen Ausschnitt der Wertschöpfung zuständig und denkt hauptsächlich innerhalb der eigenen Rollenbeschreibung. Dienst nach Vorschrift im Abteilungssilo.
Es ist daher reichlich naiv, darauf zu hoffen, dass Organisationen agil werden, wenn sie Spotify kopieren oder SAFe einführen. Das alles kann ein möglicher Startpunkt einer gemeinsamen Lernreise sein, so wie man das Fahrradfahren mit Stützrädern oder dem Laufrad beginnen kann. Entscheidend ist aber, einerseits zu erkennen, dass eine längere Phase des Übens unumgänglich ist für echte agile Exzellenz und diese andererseits durch entsprechende Coaches gut begleitet werden sollte. Zu oft greifen allerdings stattdessen die Muster klassischer Organisationsentwicklung und klassischen Changemanagements: Problem analysieren, Lösungen vergleichen, auswählen und ausrollen, fertig – Stützräder montieren, Webinar absolvieren und morgen dann Downhill.
Der Fokus einer agilen Transformation liegt zu oft auf der Auswahl oder der Konzeption des »richtigen« Modells. Begründet wird das gerne damit, dass man ja die Fehler der anderen nicht wiederholen müsse. Auch ich sehe meine Kinder nicht gerne vom Fahrrad fallen, so wie alle Kinder vor ihnen bei den ersten Versuchen. Und es wäre ein Traum, mit den richtigen Werkzeugen im Handumdrehen zum passablen Handwerker zu werden. Aber ohne Fleiß kein Preis. Übung macht den Meister. Das Wiederholen der Fehler der anderen ist in diesem Fall keine Verschwendung, sondern eine notwendige Investition in das Erlernen neuer Fertigkeiten. »Per aspera ad astra« lautet eine auf Seneca zurückgehende Redewendung; frei übersetzt bedeutet sie: »Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.« Mit der billigen Spotify-Kopie oder SAFe nach Anleitung wird man die Schwerkraft der eigenen verkrusteten Strukturen aber nicht überwinden können.
1 Kommentar
„Wir lernen durch Irren und Fehlen und werden Meister durch Übung, ohne zu merken, wie es zugegangen ist.“
― Christoph Martin Wieland
Das betrifft das HandWerkliche, das körperliche Lernen.
Hier gilt der Eingangs-Satz: „Übung macht den Meister.“
Wiederkehrende Handhabung, bis uns manches zur
Routine wird und immer wieder leichte Veränderungen.
Sie ist Teil unseres handwerklichen Lernens, die Mühe.
Das Modul dafür, daß wir aber derart lernen können,
wurde bereits hinterlegt, wir hatten es schon mitgebracht.
Es stammt nicht von uns. Es ist nicht menschgemacht.
Wir können nur staunend und fasziniert daneben stehen,
wie Lernen in seinen unterschiedlichen Formen bei uns
und ebenso bei allen anderen Lebewesen „funktioniert“.
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Bei dieser Art von Lernen ist der Intellekt
ein Hindernis, sogar eine Gefahrenquelle.
Soweit ich mich erinnere, gab es beim eigenen Fahradfahrenlernen auf einem Erwachsenen-Rad keine Schürfwunde, nicht mal einen Sturz. Bei einer Einmischung des Denkens… wäre das unmöglich gewesen.
Der obligatorische Sturz folgte Jahrzehnte später
in einem Winter: Mehr Routine… als Präsenz.
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Marcus: „Eine herausragende Fußballmannschaft entsteht nicht einfach durch Verpflichtung erstklassiger Individuen“
Ein erstklassiger Fußballer ist – aufgrund des erstklassigen Gehalts – möglicherweise mehr daran interessiert, sich über die Vertragszeit hinweg keine Verletzung zuzuziehen, als effizient in der Mannschaft aufzugehen.
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Marcus: „Experiment für Experiment – Problemlösungen zu erkunden. Kindergartenkinder können das ganz vortrefflich“
Kommt auf das Alter an: Bittet man in einem Kindergarten sehr junge Kinder ein Tischtuch aufzulegen, läßt sich beobachten, wie jedes Kind das Tuch vorzugsweise in die eigene Richtung zerrt. Erst etwas ältere (reifere) Kinder sind in der Lage, zu kooperieren, die Aufgabe in relativ kurzer Zeit zu lösen.
Das gilt auch für die sogenannten Erwachsenen: Erst mit einer gewissen Geistigen Reife (4) sind wir in der Lage, nicht nur auf unser Eigen-Interessen zu fokussieren, sondern auch ein außerhalb unseres Interessen-Zentrums zu erreichendes Ziel freudig-engagiert unterstützen und fördern zu können.
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Herzliche Grüße!
Nirmalo