Nerd Attack!

Eigent­lich habe ich es ja nicht so mit Nost­al­gie. Zu oft habe ich seit mei­ner Kind­heit die Kla­gen älte­rer Mit­men­schen anhö­ren müs­sen, frü­her sei doch alles bes­ser gewe­sen. Trotz Krieg und Nach­kriegs­zeit wohl­ge­merkt. Als Beweis wur­de dann immer ange­führt, dass damals eine Sem­mel (für die nord­deut­schen Leser: ein Bröt­chen) schließ­lich nur zwei Pfen­nig kos­te­te. Mei­ne ratio­na­le Argu­men­ta­ti­on mit Infla­ti­on und Sta­tis­tik der Lebens­mit­tel­prei­se ver­lief stets ergeb­nis­los. Nost­al­gi­sche Schwär­me­rei ist mei­ner Mei­nung nach ein untrüg­li­ches Anzei­chen fort­schrei­ten­den Alters, eben­so wie die (ein­ge­bil­de­te) Unver­träg­lich­keit von Kaf­fee nach 15:00 Uhr. Den­noch hal­te ich Nerd Attack!: Eine Geschich­te der digi­ta­len Welt vom C64 bis zu Twit­ter und Face­book von Chris­ti­an Stö­cker für ein sehr wich­ti­ges Buch und kei­nes­wegs für nost­al­gi­sche Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit. Wer­de ich lang­sam alt?

Ein Buch das mit dem C64 im Deutsch­land der 80er Jah­re star­tet, also in mei­ner Jugend­zeit, ist wohl immer ein wenig nost­al­gisch. Aber dar­um geht es Chris­ti­an Stö­cker nicht, son­dern um die Erklä­rung der Gegen­wart aus die­ser einer­seits, näm­lich zeit­lich, noch sehr nahen und ande­rer­seits, näm­lich tech­nisch, sehr fer­nen Ver­gan­gen­heit. Ein sehr unter­halt­sam geschrie­be­nes Geschichts­buch also über Ent­wick­lung und die Aus­wir­kun­gen der Digi­ta­li­sie­rung und Ver­net­zung auf die Gesell­schaft und die Wirtschaft.

Ob der C64 nun his­to­risch betrach­tet der rich­ti­ge Aus­gangs­punkt ist, dar­über kann man strei­ten und tat­säch­lich sind im Buch auch sei­ne Vor­läu­fer und Kon­kur­ren­ten auf dem Heim­com­pu­ter­markt der dama­li­gen Zeit genannt. Der C64 steht stell­ver­tre­tend für die groß­flä­chi­ge und schließ­lich flä­chen­de­cken­de Ver­brei­tung von Com­pu­tern und deren voll­stän­di­ge Ver­net­zung. Eine tech­ni­sche Inno­va­ti­on die, nicht nur in die­sem Buch, in eine Rei­he gestellt wird mit der Erfin­dung der Druckerpresse.

Aus­ge­hend von der Stim­mung im Deutsch­land der 80er Jah­re (Kal­ter Krieg, Tscher­no­byl, etc.), wird der unbe­darf­te und anfangs unbe­ob­ach­te­te Umgang der zumeist jun­gen Nut­zer mit der neu­en Tech­no­lo­gie beschrie­ben. Der heu­te viel dis­ku­tier­te digi­ta­le Gra­ben hat sei­nen Ursprung in die­ser Zeit. Eben­so wie die Mög­lich­kei­ten sei­ner Über­win­dung. Die Tech­no­lo­gie war damals für alle neu, aber eini­ge, vor­wie­gend jun­ge, Men­schen hat­ten das Bedürf­nis die sich damit bie­ten­den Mög­lich­kei­ten aus­zu­rei­zen. Eben­so wie ande­re, vor­wie­gend älte­re, Men­schen das Bedürf­nis hat­ten, sie zu ver­teu­feln oder ganz zu igno­rie­ren. Ein Sche­ma, das sich in Deutsch­land seit­her stän­dig wie­der­holt. Letzt­lich ist das Buch ein Appell zum spie­le­ri­schen und angst­frei­en Umgang mit Technologie.

Hoch­in­ter­es­sant fand ich die Ver­glei­che zwi­schen Deutsch­land (stell­ver­tre­tend für Euro­pa) und den USA, die sehr deut­lich machen, war­um wir in Deutsch­land zwar immer noch die bes­ten Autos bau­en, aber in der soge­nann­ten „New Eco­no­my“ nur als „Copy­cats“ gel­ten, die Inno­va­tio­nen ande­rer nur kopie­ren kön­nen. Exem­pla­risch für das angst­vol­le Aus­blen­den von Chan­cen, sei die die deut­sche alter­na­ti­ve poli­ti­sche Sze­ne genannt, die sich ganz im Gegen­satz zu ihren Mit­strei­tern in den USA, der neu­en Tech­no­lo­gie lan­ge ver­schlos­sen hat­te. Zu lan­ge galt die Glei­chung grün gleich tech­no­lo­gie­s­kep­tisch. Die jetzt aktu­el­len The­men im Inter­net­recht, Daten­schutz und Urhe­ber­recht wer­den von ande­ren besetzt; sie­he die aktu­el­len Erfol­ge der Piratenpartei.

Ande­rer­seits lässt sich das Buch auch als War­nung lesen. Das Inter­net wie wir es heu­te ken­nen, auf Basis unab­hän­gi­ger und offe­ner Stan­dards, war kei­nes­wegs eine der­art logi­sche Ent­wick­lung, wie es rück­bli­ckend erscheint. Es hät­te ganz anders kom­men kön­nen. Dann säßen wir heu­te an BTX 2.0, wür­den exor­bi­tan­te Gebüh­ren an die Deut­sche Post bezah­len und könn­ten und uns nicht mit Men­schen, die in AOL oder einem ande­ren Silo gefan­gen wären, aus­tau­schen. Gebannt sind die­se Gefah­ren lei­der immer noch nicht, wie die aktu­el­len Dis­kus­sio­nen über Netz­neu­tra­li­tät zei­gen. Zudem steckt das Web2.0 und Social Media heu­te noch in den Kin­der­schu­hen und ist weit von jeg­li­cher Stan­dar­di­sie­rung ent­fernt. In gewis­ser Wei­se befin­det sich Social Media noch im BTX-Zeit­al­ters des Inter­nets. Wir stel­len jetzt die Wei­chen für eine Zukunft des über­grei­fen­den Dia­logs oder der „wal­led gar­dens“. Weh­ret den Anfängen.

Weitere Rezensionen

Wei­te­re mir wich­ti­ge Bücher fin­den sich in mei­nen Buch­emp­feh­lun­gen. Kom­men­ta­re, Ergän­zun­gen und Anre­gun­gen freu­en mich immer sehr.

Bildnachweis

Das Arti­kel­bild wur­de von Bill Bert­ram auf Wiki­me­dia unter der CC BY-SA 2.5 Crea­ti­ve-Com­mons Lizenz veröffentlicht.



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