Gute Entscheidungen treffen zwischen Konsens und Konsent

Wer ent­schei­det hier und wie las­sen sich gute Ent­schei­dun­gen tref­fen? Die­se Fra­ge stell­te sich in vie­len hier­ar­chi­schen Orga­ni­sa­tio­nen lan­ge Zeit gar nicht, denn im Zwei­fel ent­schei­det der Chef oder ein klei­ner hoch­ran­gi­ger Füh­rungs­zir­kel der im bes­ten Fall ein gro­ßes Maß an Diver­si­tät auf­weist und den Dis­sens schätzt im schlech­tes­ten Fall aber nur aus Cla­queu­ren besteht. Im Zuge der Ver­än­de­rung hin zu agi­le­ren Orga­ni­sa­ti­ons­for­men sind neue Ant­wor­ten auf die Fra­ge wer ent­schei­det und wie ent­schie­den wird aber von zen­tra­ler Bedeu­tung. Schließ­lich ist Agi­li­tät ja gera­de dadurch gekenn­zeich­net, dass Ent­schei­dun­gen im Sin­ne der Sub­si­dia­ri­tät mög­lichst dezen­tral in selbst­or­ga­ni­sier­ten Teams fal­len müs­sen. Nur wie?

Demokratische Mehrheitsentscheidung

Demo­kra­tie ist ein Mecha­nis­mus, der sicher­stellt, dass wir genau so regiert wer­den, wie wir es verdienen.

Geor­ge Bern­hard Shaw

Die Zei­ten der Auto­kra­tie, in der ein Allein­herr­scher nach Gut­dün­ken ent­schei­det, sind zum Glück in den meis­ten Staa­ten seit der Auf­klä­rung vor­bei. An ihre Stel­le trat die (par­la­men­ta­ri­sche) Demo­kra­tie, in wel­cher die Ent­schei­dungs­ho­heit bei einer (mög­lichst reprä­sen­ta­ti­ven) Grup­pe liegt. Das Mit­tel der Wahl zur Ent­schei­dungs­fin­dung in die­ser Grup­pe ist der Mehr­heits­ent­scheid, d.h. die Zustim­mung der Mehr­heit gibt den Ausschlag. 

Das führt einer­seits zu vie­ler­lei „Poli­tik“ im schlech­tes­ten Sin­ne näm­lich dem inhalts­lee­ren, dafür aber umso lau­te­ren, tak­ti­schen Kampf um Stim­men und Mehr­hei­ten statt einer Aus­ein­an­der­set­zung in der Sache. Ist nach zähem Rin­gen end­lich ein mehr­heits­fä­hi­ger Vor­schlag ver­ab­schie­det, sind dann aber den­noch vie­le berech­tig­te Aspek­te der unter­le­ge­nen Vor­schlä­ge unter den Tisch gefallen. 

Systemisches Konsensieren

Gera­de bei vie­len Wahl­mög­lich­kei­ten stößt das Mehr­heits­prin­zip an sei­ne Gren­zen. Ent­ge­gen der land­läu­fi­gen Annah­me ist es dann kei­ne gute Annä­he­rung an einen Kon­sens, weil die rela­ti­ve Mehr­heit der Stim­men (auch und gera­de bei vie­len Ent­hal­tun­gen) nur­mehr die Mei­nung einer Min­der­heit reprä­sen­tiert. Die­ses Man­ko lässt sich natür­lich behe­ben in dem die abso­lu­te Mehr­heit oder im Extrem­fall sogar ein­stim­mi­ge Beschlüs­sen ver­langt wer­den. Je mehr Vor­schlä­ge auf dem Tisch lie­gen des­to weni­ger rea­lis­tisch und prak­ti­ka­bel wird das dann aber.

In die­sen Situa­tio­nen mit vie­len Wahl­mög­lich­kei­ten hilft das Sys­te­mi­sche Kon­sen­sie­ren bei der best­mög­li­chen Annä­he­rung an den Kon­sens. Dazu wird für jede Wahl­mög­lich­keit nicht die Zustim­mung der ein­zel­nen Grup­pen­mit­glie­der erfasst, son­dern der Grad der Ableh­nung auf einer Ska­la von 0 (kein Ein­wand) bis 10 (völ­lig unak­zep­ta­bel). Gewählt wird dann die Opti­on die von allen am wenigs­ten abge­lehnt wird, wo also der Grup­pen­wi­der­stand am gerings­ten ist.

In der gemein­sa­men Dis­kus­si­on der Wahl­mög­lich­kei­ten kann Grad der Ableh­nung zusätz­lich begrün­det wer­den. So führt die Erklä­rung der Grün­de für den Wider­stand immer zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis der Mei­nung, Stand­punk­te und Vor­lie­ben der ein­zel­nen Per­so­nen. Zusam­men­ge­fasst hat der so kon­sen­sier­te Vor­schlag fol­gen­de Eigen­schaf­ten (Quel­le: SK kurz erklärt):

  • erzeugt die gerings­te Unzu­frie­den­heit in der Gruppe …
  • wird von allen gemein­sam am leich­tes­ten angenommen …
  • kommt dem Kon­sens am nächsten …
  • kommt daher auch dem all­ge­mei­nen Inter­es­sen­aus­gleich am nächsten …
  • erzeugt somit das gerings­te Kon­flikt­po­ten­ti­al …
  • kommt daher als Pro­blem­lö­sung am ehes­ten in Frage

Vom Konsens zum Konsent

By con­sen­sus, I must con­vin­ce you that I am in the right; by con­sent, you ask whe­ther you can live with the decision.

Anne­wiek Reijmer 

Die Sozio­kra­tie baut wie die Demo­kra­tie auf dem Prin­zip der Gleich­be­rech­ti­gung auf, setzt die­ses aber nicht in Form des Grund­sat­zes der Wahl­gleich­heit („Ein Mensch – eine Stim­me“) um. Sie kennt dazu den Kon­sent und meint damit, dass eine Ent­schei­dung als getrof­fen gilt, sobald es kei­ne schwer­wie­gen­den Ein­wän­de gegen sie mehr gibt und jeder sein Ein­ver­ständ­nis (engl. con­sent) geben kann.

Im Zen­trum des Kon­sent steht also nicht die Fra­ge, wer auf­grund wel­cher Über­le­gung zustimmt, son­dern wer wel­ches Argu­ment ein­zu­wen­den hat. Eine blo­ße Ableh­nung reicht nicht und jeder Ein­wand muss trif­tig begrün­det wer­den inklu­si­ve eines inte­gra­ti­ven Vor­schlags zur Ver­bes­se­rung der gemein­sa­men Lösung. Bei die­sem Pro­zess der Inte­gra­ti­on hilft es oft, die anste­hen­de Ent­schei­dung im Sin­ne eines Segelns auf Sicht auf den nächs­ten kon­kre­ten Schritt ein­zu­schrän­ken, mit Erfolgs­hy­po­the­sen zu ver­se­hen und so nach dem ers­ten Schritt ganz agil den nächs­ten zu entscheiden. 

Konsultativer Einzelentscheid

Das Kon­sent­prin­zip führt natur­ge­mäß zu einer höhe­ren Akzep­tanz der Ent­schei­dung, stößt in grö­ße­ren Grup­pen jen­seits der übli­chen Team­grö­ße aber schnell an sei­ne Gren­zen, weil die Inte­gra­ti­on der ver­schie­de­nen Ein­wän­de sehr auf­wän­dig wer­den kann. Eine Abwand­lung davon bzw. eine Annä­he­rung dar­an ist der kon­sul­ta­ti­ve Ein­zel­ent­scheid, bei dem im Extrem­fall wie zum Bei­spiel bei AES (vgl. Fre­de­ric Laloux, Reinven­ting Orga­niza­ti­ons) jeder im Unter­neh­men weit­rei­chen­de Ent­schei­dun­gen tref­fen kann, solan­ge er oder sie die Ein­wän­de und Ansich­ten aus­rei­chend vie­ler kon­sul­tiert und inte­griert hat. 

Ver­schie­de­ne Unter­neh­men wie bei­spiels­wei­se oose oder it-agi­le set­zen auf weni­ger radi­ka­le Vari­an­ten des kon­sul­ta­ti­ven Ein­zel­ent­scheids. Dabei wird zunächst per Kon­sent der Ent­schei­der für einen vor­her iden­ti­fi­zier­ten und beschrie­be­nen Ent­schei­dungs­be­darf bestimmt. Die­ser Ent­schei­der ist dann bevoll­mäch­tigt nach aus­rei­chen­der Inte­gra­ti­on der Mei­nun­gen von (ggf. auch im Vor­feld gemein­sam fest­ge­leg­ten) zu kon­sul­tie­ren­den Per­so­nen die Ent­schei­dung unan­fecht­bar zu treffen. 

Kon­sent bzw. der kon­sul­ta­ti­ve Ein­zel­ent­scheid und Sys­te­mi­sches Kon­sen­sie­ren ähneln sich inso­fern als bei­de das Ziel haben die Mei­nun­gen mög­lichst vie­ler zu berück­sich­ti­gen in der Ent­schei­dungs­fin­dung. Der Kon­sent ist dabei aber eher ein Pro­zess zum ite­ra­ti­ven Ver­fei­nern einer Lösung (gegen die schließ­lich nie­mand mehr etwas ein­zu­wen­den hat), wäh­rend das Sys­te­mi­sche Kon­sen­sie­ren hilft eine mög­lichst kon­sens­na­he Wahl unter vie­len Mög­lich­kei­ten zu treffen. 



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8 Kommentare

Stefan Müller 13. März 2019 Antworten

Lie­ber Marcus,
da haben wir uns ja einem ganz ähn­li­chen The­ma gewidmet:
https://www.linkedin.com/pulse/gute-entscheidungen-trotz-komplexit%C3%A4t-nicht-einfach-aber‑m%C3%BCller/
Schau an.
Vie­le Grüße
Stefan

Marcus Raitner 13. März 2019 Antworten

Span­nend. Dan­ke für den Link zu dei­nem Beitrag.

Christoph Smak 13. März 2019 Antworten

Klas­se, das SK-Prin­zip kann­te ich noch nicht, danke!

Sehr guter Arti­kel. Wie immer eigentlich ;)

Marcus Raitner 13. März 2019 Antworten

Vie­len Dank! Freut mich sehr.

Torsten Pistor 1. April 2019 Antworten

Hal­lo Markus,

ich schrei­be gera­de an mei­ner Mas­ter­ar­beit über Sys­te­mi­sches Kon­sen­sie­ren in Bezug auf Ent­schei­dungs­pro­zes­se in agi­len Teams, wäre es mög­lich, mit Dir mal zu die­sem The­ma zu telefonieren?

Ich wäre Dir sehr dankbar :)

Vie­le Grüße
Torsten

Marcus Raitner 7. April 2019 Antworten

Ger­ne. Lei­der kam die E‑Mail an dich gera­de als unzu­stell­bar zurück …

Patrick 28. September 2019 Antworten

Hal­lo Torsten,

das klingt wahn­sin­nig span­nend! Wird dei­ne Arbeit ver­öf­fent­licht oder kann man sie auf irgend­ei­nem Wege lesen?

Bes­te Grüße

Torsten Pistor 9. April 2019 Antworten

Hi Mar­cus,

vie­len Dank für die Bereit­schaft und sor­ry für die Irri­ta­ti­on mit der Mail­adres­se, ich hab Dir jetzt ein­fach mal eine ande­re ange­ge­ben, die soll­te auf jeden Fall funktionieren.

Vie­le Grü­ße und hof­fent­lich bis bald :)

Tors­ten

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