Ist ein Uhrwerk kompliziert? Oder doch komplex? Und wie steht es mit dem menschlichen Gehirn im Vergleich dazu: Ist es komplex oder kompliziert? Oder vielleicht sogar beides? Wenn wir Dinge nicht (sofort) verstehen, nennen wir sie kompliziert und ganz komplizierte Dinge nennen wir dann komplex. Aber ist das überhaupt korrekt und zulässig oder führt uns unser Sprachgefühl hier in die Irre?
Ob etwas kompliziert ist, hängt von Wissensstand des Beobachters ab. Die Aussage „Ein Uhrwerk ist kompliziert“ ist insofern unvollständig. Für mich ist das Uhrwerk kompliziert, für einen erfahrenen Uhrmacher aber nicht. Kompliziertheit ist also keine objektive Eigenschaft einer Sache oder einer Situation, sondern vielmehr eine Aussage über Wissen und Erfahrung des Beobachters in Bezug auf den beobachteten Gegenstand oder die erlebte Situation. Durch mehr Wissen und Analyse kann dieser Beobachter sein Verständnis erhöhen und gleichsam die Kompliziertheit reduzieren.
Müssen wir also nur lernen und genau analysieren und alles wird verständlich und beherrschbar? Das menschliche Gehirn lässt sich analysieren und für einen Neurowissenschaftler ist es sicher weniger kompliziert als für mich. Mit tiefen Wissen lässt sich also zwar die prinzipielle Funktionsweise des Gehirns erklären, aber dennoch nicht vorhersehen, was dieses Gehirn im nächsten Moment denken wird. Auch ein Neurowissenschaftler wird von seinem Gehirn und den darin entstehenden Gedanken überrascht werden!
Es gibt also Systeme und Situationen, die trotz eines Verständnisses der Einzelteile und Zusammenhänge in ihrem Verhalten nicht vorhersagbar sind und deren Ergebnisse überraschen werden. Genau hier beginnt es komplex zu werden. Komplexität meint also vereinfacht gesagt, die Fähigkeit zur Überraschung.
A system is never the sum of its parts it’s the product of their interaction.
Russel Ackoff
Schon Aristoteles war klar, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Russel Ackoff präzisierte diese Aussage als er schrieb, dass das Ganze das Produkt der Interaktion ist. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Produkt“ verleiht diesem Satz eine sehr interessante Aussage. Das Produkt kann nicht nur als Ergebnis verstanden werden, sondern auch mathematisch im Sinne von Multiplikation. Und dann ergibt sich das Ganze eben nicht durch die Addition der Teile sondern vielmehr durch die Multiplikation der Interaktionen. Daraus folgt aber auch, dass sich kleine Effekte stärker auswirken, weil sie sich multiplizieren und eben nicht nur addieren.
Erst durch das dynamische Zusammenspiel der Komponenten entsteht Lebendigkeit und das System oder die Situation vermag zu überraschen. So wie das menschliche Gehirn oder der Straßenverkehr. Die einzelnen Teile des Systems entfalten in ihrer Interaktion eine überraschende Dynamik.
So betrachtet ist eigentlich keine Produktentwicklung oder kein Projekt komplex, sondern immer nur kompliziert. So wie der Mars Climate Orbiter. Technisch gesehen ist es für die meisten von uns ein kompliziertes Vorhaben, einen Satelliten zum Mars zu schicken, der dort das Klima anhand der reflektierten Strahlung untersuchen soll. Leider war die Mission ein Fehlschlag, die mit dem Verglühen des Mars Climate Orbiter in der Marsatmosphäre endete. Der Grund dafür war schnell gefunden: Ein Team der NASA rechnete mit Einheiten im international gebräuchlichen SI-System, das Team des Herstellers der Steuerungseinheit aber im imperialen System.
Komplizierte Vorhaben werden von und mit Menschen durchgeführt. Durch diesen Faktor Mensch wird aus dem technisch komplizierten Problem schnell ein komplexes Problem. Vielfach werden komplizierte Produkte auch noch für Menschen gemacht und durch diese Dynamik des Marktes erhalten solche Produktentwicklungen ebenfalls eine gewisse Komplexität. Weil also Menschen beteiligt und betroffen sind, ist ein Vorhaben fast immer gleichzeitig kompliziert und komplex.
An diesem Punkt kommt die Agilität ins Spiel. Agilität kennzeichnet sich aus durch kurze Schleifen des Lernens. Produktinkremente werden in kurzen Abständen geliefert und idealerweise gleich am Markt ausprobiert, um besser zu verstehen, was funktioniert und was nicht. Gelernt und verbessert wird aber nicht nur in Bezug auf das „Was“ sondern auch in Bezug auf das „Wie“. Agilität ist geprägt von der kontinuierlichen Verbesserung der Zusammenarbeit durch die beteiligten Menschen selbst. Mit diesen beiden Lernschleifen bietet Agilität eine gute Basis zum Umgang mit der Komplexität der Zusammenarbeit von Menschen einerseits und der Komplexität der Interaktion mit dem Markt und den Kunden andererseits.
Ein Kommentar
Binäre Codes sind im persönlichen und gesellschaftlichen Leben immer fragwürdig. So auch bei kompliziert und komplex.