Nur wer sich selbst führen kann, kann andere führen. Pater Anselm Grün bringt damit die wichtige Herausforderung der Selbstführung auf den Punkt. Wer dem Leben dienen und das menschliche Potential wie im Manifest für menschliche Führung beschrieben entfalten will, braucht zuallererst Klarheit über die Natur des Lebens und insbesondere über sein Leben. Nur wer hat die schon? Und wer nimmt sich heute überhaupt die Zeit über das Lebens nachzudenken? Ein kurzer Exkurs in den Daoismus am praktischen Beispiel der Entstehung des Manifests für menschliche Führung.
Das Leben ist keine Reise
A good traveler has no fixed plans, and is not intent on arriving.
Laozi
Seit Schulzeiten hasten wir von Beförderung zu Beförderung (ein seltsam passiver Begriff und Vorgang in diesem Zusammenhang) in der Hoffnung, es zu schaffen, anzukommen und ein wie auch immer geartetes Ziel zu erreichen. Zeit- und Selbstmanagement-Ratgeber legen uns deshalb auch nahe, unsere eigene Grabrede zu schreiben, damit wir uns unserer Lebensziele bewusst werden und darauf hin arbeiten können.
Vielleicht ist das Leben aber gar keine solche Reise, sondern der Weg das Ziel. Der populäre englische Religionsphilosoph Alan Watts vergleicht die Natur unseres Lebens aus diesem Grund eher mit dem Spielen eines Musikstücks oder mit dem Tanzen:
We thought of life by analogy with a journey, with a pilgrimage, which had a serious purpose at that end, and the thing was to get to that thing at that end. Success, or whatever it is, or maybe heaven after you’re dead. But we missed the point the whole way along. It was a musical thing, and you were supposed to sing or to dance while the music was being played.
Alan Watts
Wu wei: Handeln ohne zu erzwingen
Wu wei (無為) ist der zentrale Begriff des Daoismus. Erstmals erwähnt wird er im Daodejing, das der Legende nach auf den Weisen Laozi (ca. 6. Jahrhundert v. Chr.) zurückgeht. Wörtlich übersetzt bedeutet „Wu“ einfach „Nicht“, also eine Negation, und „Wei“ bedeutet Tun, Handeln oder Anstrengung. Wörtlich übersetzt heißt Wu Wei also Nicht-Handeln. Gemeint ist damit aber nicht Untätigkeit oder Faulheit, sondern die „Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns“ (Wikipedia). Die Übersetzung die mir am besten gefällt, habe ich bei Alan Watts gehört (vgl. dieses Video): Handeln ohne zu erzwingen.
Act without doing;
Daodejing
work without effort.
Think of the small as large
and the few as many.
Confront the difficult
while it is still easy;
accomplish the great task
by a series of small acts.
Wu wei meint also – ganz im Sinn der Agilität – das Erkennen und Nutzen der Möglichkeiten im Hier und Jetzt und daraus dann das Lernen Schritt für Schritt. So entsteht ungeplant und ohne Zwang im Fluss der Dinge aus kleinen Schritten Großes.
Wu wei in der Praxis: Die Entstehung des Manifests für menschliche Führung
Die Idee zum Manifest für menschliche Führung entstand am 29.1.2018 im Anschluss an einen Workshop in der BMW Group IT im Rahmen unserer agilen Transformation. In diesem Workshop reflektierten vier Hierarchieebenen vom Mitarbeiter bis zum Hauptabteilungsleiter darüber, wie sich Führung durch den Wandel zur Agilität verändern muss. Im Zentrum der Überlegungen und dieses Workshops standen die Überzeugungen, dass Agilität ganz wesentlich auf Autonomie, Selbstorganisation und Subsidiarität beruht, dass Führung sich nun auf mehr Rollen verteilt und sich ändern muss.
Irgendwie kam am Ende dieses Workshops die Idee auf die Erkenntnisse von unzähligen Haftzetteln aus drei Stunden Diskussion im Stile des Manifests für agile Softwareentwicklung zusammenzufassen. Einige Tage später startete ich dann den ersten Versuch mit dieser These auf Twitter (und LinkedIn):
Nach und nach entwickelten sich so innerhalb weniger Tage die restlichen fünf Thesen des Manifests, die ich dann schließlich nicht mal eine Woche nach diesem ersten Tweet hier im Blog zusammengefasst veröffentlichte:
Das Manifest löste intern wie extern viele Diskussionen aus in denen ich mir über meine Interpretation der Thesen weiter klar werden musste. Aus diesen Diskussionen und Überlegungen entstanden so im darauffolgenden Monat zu jeder These ein Artikel (#1, #2, #3, #4, #5, #6).
Als der erste Jahrestag des Manifests näher rückte, überlegte ich zuerst, ob ich eine Aktualisierung des Manifests mache und beispielsweise noch „Fragen stellen mehr als Antworten geben“ ergänze. Irgendwie stolperte ich dann aber über Leanpub und fasste den Entschluss, lieber das Manifest mit den detaillierten Artikeln und anderen die gut dazu passten als E‑Book zu veröffentlichen, was dann auch pünktlich ein Jahr nach der Veröffentlichung des Manifests fertig war.
Und als die E‑Books (deutsch und englisch) dann mehrere hundert Leser fanden, kam mir der Gedanke, dass auch ein gedrucktes Buch sehr schön wäre, nicht zuletzt weil man das eben einer Führungskraft auch als Dankeschön in die Hand geben kann. Also entstaubte ich meine seit meiner Promotion vergessenen LaTeX-Kenntnisse und überarbeitet das E‑Book komplett zu einem Taschenbuch, das seit 10.4.2019 bei Amazon (nur in der deutschen Fassung … bisher jedenfalls) erhältlich ist.
You can’t connect the dots looking forward; you can only connect them looking backwards. So you have to trust that the dots will somehow connect in your future. You have to trust in something – your gut, destiny, life, karma, whatever. This approach has never let me down, and it has made all the difference in my life.
Steve Jobs
Dieser Weg der Entstehung klingt rückblickend stringent und logisch, war aber nie geplant. Nie hatte ich vor ein Buch zum Manifest zu publizieren und ich hatte mir in der Grabreden-Übung auch nicht vorgenommen Autor zu werden. Dieser Weg entstand aus den Chancen, die sich Schritt für Schritt ergaben. Ganz wu wei: Handeln im Fluss ohne etwas zu erzwingen.