Peter Drucker wurde am 19. November 1909 geboren und wuchs als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. In den 1920er Jahren studierte er zunächst in Hamburg und später in Frankfurt. Nachdem das NS-Regime eines seiner Werke auf die Liste der Bücher setzte, die am 10. Mai 1933 öffentlich verbrannt wurden, emigrierte Drucker zunächst nach London und übersiedelte 1937 in die USA.
Vor diesem Hintergrund seiner persönlichen Geschichte ist es wenig verwunderlich, dass Peter Drucker den Begriff Führung bzw. Leadership in seinen Arbeiten nur sehr zurückhaltend thematisiert. Und an den wenigen Stellen, wo er dennoch darüber schreibt, fehlt fast nie der Verweis auf Hitler, Stalin und Mao als abschreckende Beispiele dafür, wie gefährlich Charisma ohne Charakter und Integrität werden kann.
The final proof of the sincerity and seriousness of an organization’s management is uncompromising emphasis on character. (…) For it is through character that leadership is exercised; it is character that sets the example and is imitated.
Peter F. Drucker. Management – Rev. Ed., S. 286
Charisma ist für Peter Drucker daher nicht die entscheidende Führungsqualität, sondern im Gegenteil oft sogar die Wurzel allen Übels, weil Charisma gerne zu Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit führt: Gerade Egomanen können sehr charismatisch sein. Echten Führungspersönlichkeiten wie Dwight Eisenhower, George Marshall oder Harry Truman bescheinigt Drucker entsprechend auch in etwa das Charisma einer „toten Makrele“ (Peter F. Drucker. Management – Rev. Ed., S. 289)
Worauf es wirklich ankommt ist also nicht Charisma, sondern Integrität. Persönliche Integrität ist eine Forderung aus dem philosophischen Humanismus und meint die weitestgehende Übereinstimmung eines konsistenten Rahmenwerks an Werten, Überzeugungen und Idealen mit der eigenen Lebenspraxis in Worten und Taten. Das bedeutet insbesondere, dass dieses Rahmenwerk universelle Anwendung finden muss und nicht etwa willkürlich auf einzelne Personen (sich selbst) oder Personengruppen (die anderen) nicht oder nur eingeschränkt Anwendung findet. Insofern bedingt Integrität also die Einhaltung des kategorischen Imperativs:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Immanuel Kant
Wer mit Integrität führt, hat demnach auch keine Angst vor starken Mitarbeitern, sondern baut viel mehr auf ihre individuellen Stärken, fördert sie und macht sie groß und erfolgreich im Sinne der gemeinsamen Mission. Wer aus Angst andere hingegen klein hält oder wie viele Autokraten regelrechte Säuberungsaktionen durchführt, ist nur scheinbar stark und agiert eigentlich aus einer wenig integren Position der Schwäche. Das Ergebnis ist Mittelmaß einerseits und wenig wertschöpfende politische Grabenkämpfe andererseits.
Leadership is lifting a person’s vision to higher sights, the raising of a person’s performance to a higher standard, the building of a personality beyond its normal limitations.
Peter F. Drucker. Management – Rev. Ed., S. 288
Integrität ist in diesem Sinne genau der Wert, der hinter dieser fünften These des Manifests für menschliche Führung liegt: Anführer hervorbringen mehr als Anhänger anführen. Führung ist heute nur noch legitim, wenn sie die Selbstführung der ihr anvertrauten Mitarbeiter zum Ziel hat. Es geht nicht um höhergestellt oder untergeordnet, es geht darum, auf Augenhöhe als Erwachsene zusammenzuarbeiten. Führung ist Dienstleistung, kein Privileg. Und die Dienstleistung besteht darin, Menschen die Möglichkeit zur Entwicklung zu bieten.
Dazu schafft Führung durch Integrität ein Klima von psychologischer Sicherheit und Vertrauen, in dem Menschen über sich hinauswachsen können. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, was Simon Sinek in diesem TED-Talk sehr eindrücklich: