Narrative des Präsenzkults: Der Kapitän gehört auf die Brücke

Mit den ers­ten Locke­run­gen der Aus­gangs­be­schrän­kun­gen beginnt in vie­len Büros das Hoch­fah­ren zurück zum Prä­senz­kult der Vor-Coro­na-Zeit, weil es ech­te Arbeit nur im Büro und nur unter Auf­sicht geben kann.

In der Kri­se offen­bart sich der Cha­rak­ter. Und für eini­ge Füh­rungs­kräf­te ist das eher ein Offen­ba­rungs­eid in Form der mehr oder weni­ger offen gestell­ten Fra­ge „Wie kon­trol­lie­re ich, ob mei­ne Mit­ar­bei­ter im Home­of­fice wirk­lich arbei­ten?“. Obwohl die­se Pan­de­mie Unter­neh­men wie nie zuvor in ein ver­teil­tes, digi­ta­les und remo­te-first Arbeits­mo­dell zwingt und obwohl die­ses Modell für vie­le Mit­ar­bei­ter auch erstaun­lich gut und teil­wei­se sogar bes­ser funk­tio­niert als im Groß­raum­bü­ro, hin­ter­fra­gen noch zu weni­ge den ers­ten Glau­bens­satz des Prä­senz­kults: Ech­te Arbeit kann es nur im Büro und nur unter Auf­sicht geben.

Nur ein anwe­sen­der Mit­ar­bei­ter ist dem­nach ein guter Mit­ar­bei­ter. Ein gern genutz­tes Nar­ra­tiv des Prä­senz­kults ist die­ses: Der Kapi­tän gehört auf die Brü­cke. Und weil Auf­stieg in vie­len hier­ar­chi­schen Orga­ni­sa­tio­nen viel mit Sicht­bar­keit zu tun hat, wol­len ihm die Offi­zie­re, Unter­of­fi­zie­re und sol­che, die es noch wer­den wol­len, in ihrem Prä­sen­zei­fer natür­lich in nichts nach­ste­hen. Ein Chef der sich über Prä­senz defi­niert und pro­fi­liert zieht damit den kar­rie­re­ori­en­tier­ten Teil der Mann­schaft durch sein Vor­bild an und für den Rest weiß der Erl­kö­nig Rat: „Und bist du nicht wil­lig, so brauch’ ich Gewalt.“ Ein Kapi­tän auf der Brü­cke ohne Mann­schaft an Bord wäre ja auch nur so mittelgut.

Der Kapi­tän eines Schiffs gehört tat­säch­lich auf die Brü­cke. Auch wenn vie­le Unter­neh­mens­len­ker (sic!) sich ger­ne so sehen und geben, ist ihre Arbeit den­noch eine ganz ande­re. Oder könn­te jeden­falls mit einem ande­ren Füh­rungs­ver­ständ­nis eine ande­re sein. Schach erfor­dert stän­di­ge Prä­senz und Kon­zen­tra­ti­on des Groß­meis­ters – ohne ihn bewegt sich nichts auf dem Brett. Dem erfah­re­nen Gärt­ner hin­ge­gen reicht ein acht­sa­mer Rund­gang, der zudem mehr der Freu­de an den Blu­men und Früch­ten dient als der Kontrolle.

The tempt­a­ti­on to lead as a chess mas­ter, con­trol­ling each move of the orga­niza­ti­on, must give way to an approach as a gar­de­ner, enab­ling rather than directing.

Stan­ley McChrys­tal, 2015. Team of Teams (Ama­zon Affi­lia­te-Link)

Füh­rung und ins­be­son­de­re Füh­rung auf Distanz braucht Kon­text statt Kon­trol­le. Alle Fäden straff in der Hand und die Zügel kurz zu hal­ten, war schon län­ger nicht mehr das pas­sen­de Bild von Füh­rung in einer Welt, die schon vor COVID-19 durch VUCA (für Vola­ti­le, Uncer­tain, Complex, Ambi­guous) über­aus tref­fend beschrie­ben war. Viel­mehr ist es die Auf­ga­be von Füh­rung, für einen guten Rah­men für die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on zu sor­gen, so wie ein Gärt­ner für sei­nen Gar­ten acht­sa­me und gedul­di­ge Sor­ge trägt.

Die fünfte These des Manifests für menschliche Führung.
Die fünf­te The­se des Mani­fests für mensch­li­che Füh­rung.

Reed Has­tings trifft des­halb als CEO von Net­flix mög­lichst wenig Ent­schei­dun­gen und auch David Mar­quet gab des­halb kei­ne Befeh­le mehr als Kapi­tän des Atom-U-Boots USS San­ta Fe. Und genau des­halb heißt es im Mani­fest für mensch­li­che Füh­rung „Anfüh­rer her­vor­brin­gen mehr als Anhän­ger anfüh­ren“. Die­se Hal­tung macht den Unter­schied im Büro genau­so wie beim ver­teil­ten Arbeiten.

It doesn’t make sen­se to hire smart peo­p­le and tell them what to do; we hire smart peo­p­le so they can tell us what to do.

Ste­ve Jobs


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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

10 Kommentare

Pro­vo­kan­te Zusam­men­stel­lung der Zitate.
In aller Kür­ze: Zunächst war ich von der Zusam­men­stel­lung des Zitats McChrys­tal und dem Begriff Prä­senz­kult erschüt­tert. Im Text erkann­te ich dann den „Gärt­ner“, der aber immer prä­sent ist. Man kann auch sagen: Geführt wird von vorn! Nur dort sieht der Füh­rer, ob das, was ein­aml ange­ord­net wur­de, ver­stan­den wur­de, im Sin­ne des Füh­rers umge­setzt wwer­den kann, nur dort sieht er die Schwie­rig­kei­ten und Mög­lich­kei­ten, die er einst erzeugt hat und wo er nach­steu­ern muss oder will. Er ist also in der Pro­duk­ti­on sei­nes Unter­neh­mens gefor­dert, für die Schran­zen sei­nes Sta­bes hat er hof­fent­lich einen CEO oder Büro­lei­ter oder Lei­ter des Sta­bes, der ihm den Rücken frei­hält für sein manage­ment by wan­de­ring around .
Bis dem­nächst wieder.
Frank

Vie­len Dank für dei­ne Ergän­zung, dann hat die Zusam­men­stel­lung ja gut funk­tio­niert ;-) Du hast voll­kom­men recht: Es ist eine ande­re, eine beschei­de­ne­re und indi­rek­te­re Prä­senz des Gärtners.

Die War­nung vor einer Rück­kehr zum Prä­senz­kult ist einer­seits berech­tigt. Ande­rer­seits wur­de in den letz­ten Mona­ten mil­lio­nen­fach die Erfah­rung gemacht, dass es anders auch‑, und oft auch bes­ser geht. Die­se Erfah­rung kann nicht mehr getilgt wer­den und wird ihren Tri­but ein­for­dern. Der Kon­text Füh­rung hat sich schon jetzt posi­tiv ver­än­dert. Kein Grund für Pessimismus!
Vie­le Grü­ße, Ste­fan Scholer

Das wäre jeden­falls die Hoff­nung. Erle­be und höre ich lei­der nicht immer so, dar­um „vor­sichts­hal­ber“ die­ser Artikel.

Füh­rung und ins­be­son­de­re Füh­rung auf Distanz braucht Kon­text statt Kon­trol­le“ die­ser Satz ist m.E. nach ent­schei­dend – gute Füh­rung zeich­net nicht nur aus, im Hin­ter­grund zu agie­ren und Mitarbeiter*innen Ent­schei­dun­gen sel­ber tref­fen zu las­sen (und übri­gens auch vor ande­ren Führungskräften*innen prä­sen­tie­ren zu las­sen, sodass sie selbst das Lob erfah­ren) , son­dern auch das Ziel, den Kon­text und die Visi­on wofür das Team arbei­tet zu ver­mit­teln. Wer von Mitarbeiter*innen erwar­tet ohne Kon­text und damit im „luft­lee­ren“ Raum erfolg­reich eigen­stän­dig agie­ren zu kön­nen, macht es sich zu leicht und nimmt sei­ne Füh­rungs­auf­ga­be nicht war. Lei­der schei­tern aber noch vie­le Manager*innen genau dar­an und klam­mern sich lie­ber an die Kon­trol­le der Prä­senz­kul­tur – da muss ich als Füh­rungs­kraft auch nicht vor­den­ken und das Gro­ße Gan­ze ver­mit­teln, son­dern kann mich von Tag zu Tag han­geln. Wenn ich selbst nicht weiß, wohin die Rei­se gehen soll, fällt es schwer los­zu­las­sen. Ob in post COVID19 Zei­ten mehr Füh­rungs­kräf­te wis­sen, wel­che Visi­on und wel­chen Kon­text sie ver­mit­teln wol­len, bleibt abzu­war­ten. Mei­ne Hoff­nung ist, dass mit dem so nahen Erle­ben von VUCA sich mehr und mehr in Unter­neh­men die Ein­sicht durch­setzt, dass Gärtner*innen statt Schachmeister*innen gefragt sind .

Ja, neue Füh­rung heißt nicht in Belie­big­keit. Dar­um heißt es ja auch Sinn und Ver­trau­en mehr als Anwei­sung und Kon­trol­le im Mani­fest für mensch­li­che Führung.

Der Kapi­tän gehört auf die Brü­cke – ja und es gehört zu sei­nen Qua­li­tä­ten sei­ne Abtei­lungs­lei­ter gut aus­zu­su­chen, und er muss ein Ohr für die Mann­schaft haben.
Und ja im Ide­al­fall hat der Kapi­tän sei­ne Mann­schaft so geführt – über den „Kon­text“ also das Ziel – dass er, wenn alles funk­tio­niert, also z.b. auch kei­ne exter­nen Stö­run­gen ein­tre­ten, genau­so gut in sei­ner Kajü­te die Fahrt ver­schla­fen könnte.

Dan­ke für dei­nen Kom­men­tar. Auf Schif­fen mag das zutref­fen. In Orga­ni­sa­tio­nen wür­de ich noch einen Schritt wei­ter gehen: Im Ide­al­fall ist der Kon­text so gesetzt und die Kul­tur so ent­wi­ckelt, dass auch und gera­de auf Stö­run­gen ohne Ent­schei­dung vom Chef und damit schnel­ler reagiert wer­den kann. So wie auch Reed Has­tings bei Net­flix stolz dar­auf ist, kei­ne Ent­schei­dun­gen zu treffen.

Vie­len Dank für das Bild vom Gärt­ner. Das gefällt mir her­vor­ra­gend! Ein guter Gärt­ner weiß ja auch, ob sei­ne Pflan­zen nur ein wenig Was­ser oder doch zusätz­lich Dün­ger brau­chen. Er checkt auch das Wet­ter (also die Welt drum­her­um), ob es nicht eh mor­gen reg­nen wird und er somit nicht selbst bewäs­sern muss. Und er setzt Pflan­zen, die gut zusam­men pas­sen oder sich sogar brau­chen, bein­an­der. Und Gras wächst nicht schnel­ler, wenn man dar­an zieht! .… mir fal­len dazu noch vie­le tol­le Ana­lo­gien ein Dan­ke dafür! Daniela

Sehr ger­ne, Danie­la. Das ist auch eines mei­ner Lieb­lings­bil­der, weil der Gärt­ner eben nicht neben der Toma­te steht und sie anschreit oder ver­sucht zu motivieren …

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