Kontext statt Kontrolle

Was hat Net­flix mit einem Atom-U-Boot gemein­sam? Obwohl bei­de auf den ers­ten Blick unter­schied­li­cher nicht sein könn­ten, ähnelt sich ihre außer­ge­wöhn­li­che Füh­rungs­kul­tur. Reed Has­tings, CEO von Net­flix, ist stolz dar­auf, so weni­ge Ent­schei­dun­gen wie mög­lich und am bes­ten ein gan­zes Quar­tal lang gar kei­ne zu tref­fen. Und Cap­tain David Mar­quet beschloss auf dem Atom-U-Boot USS San­ta Fe, kei­ne Befeh­le mehr zu geben. Bei­de set­zen auf Kon­text statt Kon­trol­le und sind damit sehr erfolgreich.

Kommando übernehmen

Über ein Jahr berei­te­te sich David Mar­quet für sei­ne neue Auf­ga­be als Kapi­tän der USS Olym­pia vor. Er lern­te jedes Detail über die­ses Atom-U-Boot. Alles lief wie geplant bis er kurz­fris­tig das Kom­man­do der USS San­ta Fe über­neh­men muss­te. Die­se bei­den Atom-U-Boo­te gehö­ren zwar bei­de zur sel­ben Klas­se atom­ge­trie­be­ner Jagd-U-Boo­te (Los-Ange­les-Klas­se), aber da es sich bei der USS San­ta Fe um einen deut­lich neue­ren Typen han­del­te, wuss­te David Mar­quet nur wenig über die­ses U‑Boot als er das Kom­man­do dar­auf übernahm.

David Mar­quet tat also was zu tun war und agier­te wie er es gelernt hat­te. Er pack­te an und gab Kom­man­dos. Gera­de auf der USS San­ta Fe, das damals das U‑Boot mit der schlech­tes­ten Leis­tung und Moral in der gesam­ten Navy war, brauch­te es schließ­lich eine star­ke Füh­rungs­per­sön­lich­keit. Oder?

Wäh­rend einer Übung im ers­ten Monat sei­nes Kom­man­dos, erkann­te David Mar­quet die Gefähr­lich­keit einer Mann­schaft, die auf Gehor­sam trai­niert war, und einem Chef, des­sen Wis­sen begrenzt war. In der Übung wur­de der Aus­fall des Haupt­re­ak­tors simu­liert und ent­spre­chend muss­te die USS San­ta Fe wäh­rend der Zeit der Repa­ra­tur des Reak­tors mit einem bat­te­rie­ge­trie­be­nen Elek­tro­mo­tor (EPM) aus­kom­men. Um die Mann­schaft ein biss­chen her­aus­zu­for­dern und den Druck zu erhö­hen, gab David Mar­quet schließ­lich sei­nem wach­ha­ben­den Offi­zier den Befehl „Zwei Drit­tel vor­aus!“. Die­ser gab den Befehl sofort an den Steu­er­mann wei­ter und es pas­sier­te … nichts!

Als David Mar­quet den Steu­er­mann frag­te, war­um er den Befehl nicht aus­ge­führt hät­te, erklär­te ihm die­ser, dass es anders als auf sei­nen bis­he­ri­gen U‑Booten auf der USS San­ta Fe gar kein „zwei Drit­tel vor­aus“ gab. Das wuss­te auf dem Schiff auch jeder außer David Mar­quet. Ins­be­son­de­re wuss­te das auch der wach­ha­ben­de Offi­zier, der den Befehl aber den­noch geflis­sent­lich wei­ter­gab, weil er eben auf Gehor­sam trai­niert war. Das war der Moment, an dem David Mar­quet erkann­te, dass er mit sei­nem beschränk­ten Wis­sen und sei­ner beschränk­ten Erfah­rung ein gefähr­li­cher Eng­pass in der Orga­ni­sa­ti­on war und wel­ches Poten­ti­al ande­rer­seits in der kol­lek­ti­ven Erfah­rung, Intel­li­genz und Krea­ti­vi­tät sei­ner Mann­schaft schlum­mer­te. Und das woll­te er zur Ent­fal­tung bringen. 

Kontrolle abgeben

If you want peo­p­le to think, give them intent, not instruction.

David Mar­quet

Also beschloss er kei­ne Befeh­le mehr zu geben. Bis auf die Ver­wen­dung der Atom­ra­ke­ten ließ David Mar­quet sei­ne Crew im Detail selbst ent­schei­den. Damit sie die­se Ent­schei­dun­gen tref­fen konn­ten, ver­mit­tel­te er ihnen die Absicht und das Ziel, gab ihnen den vol­len Kon­text und half ihnen durch geziel­te Fra­gen mehr als Coach, ihre Ent­schei­dun­gen zuneh­mend unab­hän­gi­ger tref­fen zu kön­nen. Wenn er also anfangs noch um Erlaub­nis gefragt wur­de, um bei­spiels­wei­se den Tauch­vor­gang ein­zu­lei­ten, gab er kei­nen Befehl, son­dern führ­te den fra­gen­den Offi­zier dahin, dass er dar­über nach­dach­te, ob es einer­seits sicher war und ande­rer­seits jetzt das rich­ti­ge im Sin­ne der über­grei­fen­den Mis­si­on war. Nach und nach frag­ten immer weni­ger Offi­zie­re um Erlaub­nis, son­dern began­nen wie David Mar­quet zu den­ken und über­nah­men Ver­ant­wor­tung für ihre Ent­schei­dun­gen und die Ent­schei­dun­gen ihrer Teams. Wo frü­her nur mehr oder weni­ger zusam­men­hangs­lo­se Befeh­le aus­ge­führt wur­den, war spä­ter selbst im hin­ters­ten Maschi­nen­raum die der­zei­ti­ge Situa­ti­on und die Mis­si­on des Schif­fes bewusst und führ­te dort zu bes­se­ren Ent­schei­dung indem zum Bei­spiel eben Lärm ver­mie­den wur­de, wäh­rend sich ein feind­li­ches Schiff in der Nähe befand.

Mit die­ser außer­ge­wöhn­li­chen Füh­rungs­kul­tur gelang es David Mar­quet im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes das Schiff her­um zu dre­hen (wes­halb sein zuge­hö­ri­ges und sehr lesens­wer­tes Buch „Turn Around the Ship! A True Sto­ry of Tur­ning Fol­lo­wers Into Lea­ders“ heißt). Die USS San­ta Fe wur­de vom ehmals schlech­tes­ten zum bes­ten U‑Boot in der US Navy und blieb es auch nach­dem David Mar­quet 2009 in Ruhe­stand ging. Dar­über­hin­aus wur­de die USS San­ta Fe de fac­to eine Aus­bil­dungs­stät­te für neue Offi­zie­re bis hin zu zehn Kapi­tä­nen von Atom-U-Boo­ten, die ihr Hand­werk unter David Mar­quet gelernt hat­ten. Viel bes­ser und unter­halt­sa­mer erzählt das aber David Mar­quet in die­sem TEDx-Talk (vgl. auch die gan­ze Geschich­te von David Mar­quet).

Kontext statt Kontrolle

Trotz die­ser ein­drucks­vol­len Demons­tra­ti­on der Wir­kung von Füh­rung zur Selbst­füh­rung muss man Bei­spie­le für die­se Füh­rungs­kul­tur in gro­ßen hier­ar­chi­schen Orga­ni­sa­tio­nen lei­der immer noch mit der Lupe suchen. Bei Net­flix, immer­hin das siebt­größ­te Inter­net-Unter­neh­men der Welt, wird man jedoch schnell fün­dig. Und dort ins­be­son­de­re im legen­dä­ren Cul­tu­re State­ment, das Pat­ty McCord als ehe­ma­li­ge Chief Talent (sic!) Offi­cer im Jahr 2009 ver­öf­fent­lich­te. Die 125(!) Foli­en zur Kul­tur bei Net­flix wur­den seit­her unglaub­li­che 18 Mil­lio­nen mal auf­ge­ru­fen und wur­den von Face­books COO Sheryl Sand­berg als das wich­tigs­te Doku­ment aus dem Val­ley bezeich­net. In der mitt­ler­wei­le über­ar­bei­te­ten Fas­sung auf der Net­flix-Web­sei­te wird unmiss­ver­ständ­lich klar, wer bei Net­flix ent­schei­det und was die Auf­ga­be von Füh­rung dabei ist: 

We want employees to be gre­at inde­pen­dent decis­i­on makers, and to only con­sult their mana­ger when they are unsu­re of the right decis­i­on. The leader’s job at every level is to set clear con­text so that others have the right infor­ma­ti­on to make gene­ral­ly gre­at decisions.

Net­flix Cul­tu­re Statement

Die wich­tigs­te Füh­rungs­auf­ga­be ist es also, nicht sel­ber zu ent­schei­den, son­dern Rah­men­be­din­gun­gen zu gestal­ten, dass Mit­ar­bei­ter eigen­stän­dig ent­schei­den kön­nen. Des­halb trifft Reed Has­tings bei Net­flix mög­lichst wenig Ent­schei­dun­gen und des­halb gab David Mar­quet kei­ne Befeh­le mehr auf der USS San­ta Fe. Und des­halb heißt es „Anfüh­rer her­vor­brin­gen mehr als Anhän­ger anfüh­ren“ im Mani­fest für mensch­li­che Füh­rung, denn von die­ser Füh­rungs­kul­tur brau­chen wir wirk­lich mehr, gera­de wenn die Zei­ten unsi­che­rer und kom­ple­xer wer­den.

We tell peo­p­le not to seek to plea­se their boss. Ins­tead, seek to ser­ve the business.

Net­flix Cul­tu­re Statement


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4 Kommentare

Matthias H. 3. Oktober 2019 Antworten

Kein Kom­men­tar hier­zu bisher?
Scha­de, denn dazu hät­te mich auch ande­res Feed­back bzw. ande­re Erfah­run­gen interessiert.

My 2 Cents:
Lei­der schei­tert es wirk­lich oft an Gege­ben­hei­ten, die die­ses Umfeld schaf­fen, dass ein Team eigen­stän­dig über­haupt irgend­wel­che Ent­schei­dun­gen tref­fen kann/darf.
Unkla­res Bud­get, unsi­che­re Kapa­zi­tä­ten und Rat­lo­sig­keit über Rele­vanz des Pro­jekts schei­nen an der Tages­ord­nung zu stehen.
Und wenn eine etwa­ige Ent­schei­dungs­frei­heit dann aber häu­fig wie­der z.B. durch Mikro­ma­nag­ment zunich­te gemacht oder Mit­ar­bei­ter demo­ti­viert wer­den kehrt sich der Effekt bis hin zur (beab­sich­tig­ten oder unbe­ab­sich­tig­ten) Sabo­ta­ge des Unter­neh­mens / der Pro­zes­se bzw. Pro­jek­te um.
… sel­ten unmo­ti­vier­te­re und frus­trier­te­re Men­schen im Berufs­le­ben gesehen.
… trau­rig aber viel­fach wahr.

Marcus Raitner 3. Oktober 2019 Antworten

Vie­len Dank für die­sen ers­ten Kom­men­tar! Ja, es schei­tert dar­an, dass sehr sel­ten der Kon­text voll­um­fäng­lich gege­ben wird, damit die Team aut­ark ent­schei­den kön­nen. Traurig.

Carsten Mehr 2. April 2020 Antworten

Lie­ber Mar­cus, du schreibst / sprichst mir immer wie­der aus der Seele!
Ja ich den­ke, füh­le auch so. Mei­ne Hal­tung könn­te gar kei­ne ande­re mehr sein.
Den­noch stel­le ich mir die Fra­ge, wie wir es schaf­fen, das bis­her sozia­li­sier­te Men­schen­bild zu ver­än­dern. Der Tay­lo­ris­mus ist ja schon mehr als eine Reli­gi­on, qua­si Teil der Gene.
Und ich weiß aus mei­ner eige­nen Lebens­bio­gra­phie, was es bedeu­tet, „die ande­re Sei­te“ erken­nen und auch spä­ter leben zu können!
Viel­leicht ist die Coro­na Kri­se, wenn erst­mal die schlimms­ten Fol­gen besei­tigt sind, eine ech­te Chance.
Eine Chan­ce den Tur­bo Kapi­ta­lis­mus zu begren­zen und die damit unsäg­lich ein­her­ge­hen­den Fol­gen der Pri­va­ti­sie­rung öffent­li­cher Güter zurückzudrehen !!
Wie bei allen Veränderungen.
Es braucht Zeit und Ausdauer.
Und Mitgefühl!
In die­sem Sin­ne, blei­be gesund, Carsten

Marcus Raitner 21. April 2020 Antworten

Lie­ber Cars­ten, ich dan­ke dir für dei­ne Unter­stüt­zung. Ich weiß lei­der auch nicht, wie wir die­se Grund­hal­tung in der Wirt­schaft nach­hal­tig ver­än­dern kön­nen. Und ich habe lei­der nicht das Gefühl, dass die Kri­se das beschleu­nigt … eher im Gegenteil.

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