Menschen sind Gewohnheitstiere. Und das ist gut so. Gewohnheiten erleichtern unser Leben, indem sie Entscheidungen automatisieren. Einerseits. Andererseits eliminieren Gewohnheiten dadurch notwendigerweise Handlungsoptionen. Bei als gut empfundenen Gewohnheiten nehmen wir diesen Verlust von Alternativen gern in Kauf. Ganz anders sehen wir das natürlich bei Gewohnheiten, die wir als schädlich oder unpassend erkannt haben und uns redlich und meistens vergeblich bemühen, sie zu ändern.
Darum ist die Liste der Vorsätze zu Neujahr lange und wird mit jedem Lebensjahr gefühlt länger. Mehr Bewegung, mehr Achtsamkeit, weniger Fleisch, weniger Zucker, statt Social Media mehr Zeit mit der Familie, jeden Tag eine Stunde früher aufstehen und endlich ein Buch schreiben … wer bietet mehr? Selten ist die Halbwertszeit dieser Vorsätze länger als ein paar Wochen. Die anfängliche Motivation unserer euphorischen Feierlaune an Sylvester verpufft fast genauso schnell wie das Feuerwerk, das wir doch ohnehin nicht mehr kaufen wollten.
Motivation is like a party-animal friend. Great for a night out, but not someone you would rely on to pick you up from the airport.
B.J. Fogg (2019), Tiny Habits: The Small Changes That Change Everything.
Diese Misserfolge führen zu Frustration. Wir sind dann unzufrieden und halten uns für willensschwach. Eine deutlich versöhnlichere Sicht auf dieses Phänomen bietet dagegen B.J. Fogg uns in seinem Buch „Tiny Habits: The Small Changes That Change Everything“ (Amazon-Affiliate Link). Motivation ist nach seinem Modell nämlich nur eine von drei Komponenten, die Verhalten auslösen und Gewohnheiten formen. Und sie ist dabei die am wenigsten verlässliche (B.J. Fogg spricht deshalb vom „Motivation-Monkey“, der uns zu unrealistischen Vorhaben verleitet). Die anderen beiden sind Fähigkeit (Ability) und Trigger (auch Prompt genannt) und alle drei müssen in ausreichender Menge und geeigneter Weise zusammentreffen, um Verhalten auszulösen.
Nur wenn das Produkt aus Fähigkeit und Motivation ausreichend groß ist und über unserer Aktivierungsschwelle liegt, löst ein Trigger ein Verhalten aus; unterhalb verpuffen Impulse oder Appelle einfach. Wenn uns etwas schwerfällt oder wir etwas nicht gut können, brauchen wir demnach hohe Motivation, um das auszugleichen. Umgekehrt erfordert etwas, das uns leicht fällt nur wenig Motivation. Anstatt sich also mit hoher Motivation in der Feierlaune an Sylvester ein großes Ziel vorzunehmen, ist es deutlich vielversprechender, mit einer ganz kleinen Änderung zu starten, die wenig Motivation erfordert und daher wahrscheinlicher zur kleinen, aber feinen Gewohnheit wird, die dann mit nach und nach steigenden Fähigkeiten zu einer größeren Verhaltensänderung ausgebaut werden kann.
If you start with a big behavior that’s hard to do, the design is unstable; it’s like a large plant with shallow roots. When a storm comes into your life, your big habit is at risk. However, a habit that is easy to do can weather a storm like flexible sprouts, and it can then grow deeper and stronger roots.
B.J. Fogg (2019), Tiny Habits: The Small Changes That Change Everything, S. 81.
B.J. Fogg weiß wovon er schreibt und spricht, denn letztlich ist er indirekt mitverantwortlich dafür, dass wir mehr Zeit mit unserem Smartphone verbringen als uns guttut und wir tagtäglich immer weiter in den Kaninchenbau der Aufmerksamkeitsindustrie hineingezogen werden. An dem von ihm gegründeten Stanford Persuasive Technology Lab, das mittlerweile Behavior Design Lab heißt, haben viele der UX-Designer von Facebook und Co. ihr Handwerk erlernt und in ihren Apps perfektioniert. Auch wenn er selbst früh vor diesen Auswüchsen warnte, die ethische Dimension seiner Arbeit thematisierte und aktiv an Initiativen zur Eindämmung der Übergriffe auf unsere Aufmerksamkeit beteiligt ist, untermauert der „Erfolg“ all dieser Apps auf unseren Smartphones, dass sein Verhaltensmodell beängstigend gut funktioniert.
Das Modell arbeitet aber eben nicht nur gegen uns, sondern auch für uns. Genau darum geht es B.J. Fogg in seinem lesenswerten Buch „Tiny Habits: The Small Changes That Change Everything“. Anstatt mit zu großen und schwierigen Änderungen (z.B. täglich 30 Minuten meditieren) zu starten und sich auf Motivation und Willenskraft zu verlassen, plädiert er dafür, lieber bewusst mit sehr kleinen Änderungen (z.B. drei achtsame Atemzüge nach dem Aufstehen) zu starten. Unsere Motivation ist unzuverlässig und so endet ein zu großer erster Schritt unweigerlich in Frustration und Schuldgefühlen, wenn die anfängliche Motivation nachlässt. Die Erfolge mit sehr kleinen Schritten können dagegen eine viel hilfreichere Dynamik entfalten und die kleine Gewohnheit wird nach und nach zu der gewünschten großen Verhaltensänderung.
Genau dieser Rat findet sich auch schon in einem viel älteren Werk, nämlich im Daodejing, das der Legende nach auf den Weisen Laozi (ca. 6. Jahrhundert v. Chr.) zurückgeht.
Act without doing;
Daodejing
work without effort.
Think of the small as large
and the few as many.
Confront the difficult
while it is still easy;
accomplish the great task
by a series of small acts.