Ein wenig verändern, umbauen und optimieren reicht schon lange nicht mehr. Heute wird transformiert was das Zeug hält. Transformationen gibt daher überall, in vielen Ausprägungen und Schattierungen. Eine digitale Transformation für das Geschäftsmodell, weil Daten ja angeblich das neue Öl sein sollen. Eine agile Transformation für die Organisation wegen der Flexibilität und Schnelligkeit in Zeiten von großer Komplexität und Unsicherheit. Eine Kulturtransformation, weil Selbstorganisation und Kreativität in angestaubten Konzernkulturen einfach nicht gut gedeihen will.
Zwischen den ebenso berechtigten wie radikalen Ansprüchen dieser Vorhaben und der tristen Realität liegen allerdings Welten. Statt des anmutigen Schmetterlings, den man sich nach der Transformation erhoffte, wird aus der unansehnlichen Raupe dann doch nur eine etwas buntere Raupe, orientierungslos und erschöpft von dem erfolglosen Theater der Transformation.
Wir sind schließlich nicht Spotify, heißt es, wenn die hehren Ansprüche der Transformation auf tristen Konzernalltag treffen. Exakt! Und genau darum geht es. Eigentlich meint der Einwand aber etwas ganz anderes: Wir werden niemals Spotify, wir wollen es auch gar nicht und wir haben dafür tausend gute Gründe.
Sachzwänge sind unausweichlich. Es fragt sich nur, wie zwingend die Sachen sind.
Henriette Hanke
Reibung mit diesen Sachzwängen gehört notwendigerweise zu jeder Transformation. Die Frage ist daher nur, wer sich zuerst aufreibt und was sich dabei zuerst abnutzt. Die Sachzwänge sind das meist nicht. Schon das Wort suggeriert Unverrückbarkeit. Ein Sachzwang ist logisch in der Sache begründet, war immer so und wird immer so bleiben. Daran ist nicht zu rütteln.
Natürlich heißt es im Manifest für agile Softwareentwicklung „Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation“, aber wir brauchen diese hundert verschiedenen Artefakte für unseren Entwicklungsprozess unbedingt. Wir sind schließlich nicht Spotify! Und „Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge“ haben wir prinzipiell auch verstanden, aber wir brauchen diese 42 Rollen unbedingt und sind deswegen froh, dass wir sie in SAFe so gut abbilden können. Wir sind schließlich nicht Spotify! Agilität und Digitalisierung gerne, aber mein kleines Silo und meine Rolle als Chef bleibt dabei bitte unangetastet. Wir sind schließlich nicht Spotify!
We are the Borg. Lower your shields and surrender your ships. We will add your biological and technological distinctiveness to our own. Your culture will adapt to service us. Resistance is futile.
Star Trek: First Contact
So lässt sich jede Transformation verwässern. Das Neue wird einfach irgendwie mit dem Kollektiv verschmolzen ohne wirklich etwas zu ändern. Die Transformation wird selbst transformiert und ihre Protagonisten assimiliert oder abgestoßen. Widerstand ist zwecklos.
Ohne Reibung mit dem Status quo gibt es aber keine echte Transformation. Es mag verrückt erscheinen und wenig förderlich für die Karriere sein, Sachzwänge zu hinterfragen oder abzulehnen, aber genau darum geht es. Es geht darum, beharrlich die Vision zu verfolgen und die Dinge anders zu sehen und zu denken, als die Sachzwänge es vorgaukeln. Jeder ins Feld geführte Sachzwang ist damit eine Chance, die Transformation ein Stückchen voran zu treiben. Seid mutig, seid radikal.
Here’s to the crazy ones.
Think different, Apple, 1997
The misfits.
The rebels.
The troublemakers.
The round pegs in the square holes.
The ones who see things differently.
They’re not fond of rules.
And they have no respect for the status quo.
You can quote them, disagree with them, glorify or vilify them.
But the only thing you can’t do is ignore them.
Because they change things.
They push the human race forward.
And while some may see them as the crazy ones,
We see genius.
Because the people who are crazy enough to think
they can change the world,
Are the ones who do.
2 Kommentare
Es gibt gar keine Sachzwänge! Keine Sache zwigt zu irgendetwas, nur Menschen die bestimmten Umständen, sog. Sachen, Bedeutung zumessen oder durch Entscheidungen zugemessen haben, und dabei sind es immer eigene Entscheidungen, wen sie die Entscheidungen anderer akzeptieren oder ihr eigenes Denken der Vergangenheit für momentan sakrosankt halten. Jede Entscheidung, jede Entscheidung jede sogenannte Sache hat eine „Halbwertszeit“ oder eine „Haltbarkeitsdatum“ – hat eine Frist. D.h. es gibt nicht nur ein „Zuspät“, sondern auch ein „Zufrüh“! Also sollte Führung im Geist von Kooperation immer ansagen, wann mit Beiträgen, mit „Sachlagen“ gerechnet werden kann. Zeitpräferenzen zu Entscheidungen zuzuordnen, schaftt nicht nur Verständigung, sondern führt erstens auch zur Durchsichtigkeit einer Präferenzsztruktur und macht das „Arbeits- resp. Entscheidungstempo“ sichtbar und griffig. Wenn man die Dimension Zeit offen handhabt, wird der Termindruck nicht automatisch geringer. Aber es wird eher sichtbar, ob mit einer Entscheidung primär Status, Kontrolle, Ärger oder notwendige Kooperationsverpflichtung Auslöser einer „Entscheidung in der Sache“ ist. – Lit: Luhmann, Niklas, Die Knappheit der Zeit und die Vordrimnglichkeit des Befristeten.
Hallo Marcus, beim Lesen ist mir ein alter Text zum Thema Sachfragen eingefallen, den ich quasi als Kommentar jetzt einfach mal verlinke, LG Eberhard
https://www.pentaeder.de/projekte/2020/10/14/die-kriterienliste-oder-der-fehlende-mut-zur-entscheidung‑2/