Über die kognitive Dissonanz moderner Führung in traditionellen Organisationen

Eine für sich stimmige moderne Führungshaltung entwickelt zu haben ist das Eine. Die Spannung zwischen diesem Anspruch und der ernüchternden Wirklichkeit des Führungsalltags in meist eher traditionellen Strukturen auszuhalten ist aber etwas völlig anderes. In vielen Fällen löst sich diese aus der Sozialpsychologie als kognitive Dissonanz bekannte Spannung nur durch das Aufgeben der eigenen Ansprüche. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten als sich willig in sein Schicksal zu fügen.

Ein CIO erklär­te mir vor eini­gen Jah­ren im Gespräch eher bei­läu­fig, dass er auch nur eine mitt­le­re Füh­rungs­kraft sei. Viel­leicht war das nur sei­ne Recht­fer­ti­gung, war­um er in der ihm vor­ge­stell­ten Sache – es ging um die Unter­stüt­zung bei der Ver­brei­tung von Working Out Loud im Unter­neh­men – nicht wei­ter tätig wer­den kön­ne. Ein wenig zeigt die­se Bemer­kung aber auch das Span­nungs­feld von Anspruch und Wirk­lich­keit in dem vie­le Füh­rungs­kräf­te heu­te stecken.

Einer­seits haben sie für sich eine pas­sen­de Füh­rungs­hal­tung gefun­den oder arbei­ten aktiv dar­an (z. B. mit dem Mani­fest für mensch­li­che Füh­rung und dem einen oder ande­ren Work­shop­for­mat dazu) und stre­ben danach ihren Ver­ant­wor­tungs­be­reich ent­spre­chend zu füh­ren. Ande­rer­seits sind sie fast immer – wie der ein­gangs erwähn­te CIO – irgend­wie auch nur mitt­le­re Füh­rungs­kräf­te, inso­fern sie ein­ge­bet­tet sind in weni­ger moder­ne oder jeden­falls anders gepräg­te Struk­tu­ren und Abläu­fe und inso­fern sie mit anders sozia­li­sier­ten Men­schen inter­agie­ren. In vie­len Fäl­len wird sich das dann im tris­ten Kon­zern­all­tag so anfüh­len, wie es der deut­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Knut Blei­cher so ernüch­tert beschreibt:

Wir arbei­ten in Struk­tu­ren von Ges­tern mit Metho­den von heu­te an Stra­te­gien für Mor­gen vor­wie­gend mit Men­schen, die die Struk­tu­ren von ges­tern geschaf­fen haben und das Über­mor­gen in der Unter­neh­mung nicht mehr erle­ben werden.

Knut Blei­cher

Für die­sen als unan­ge­nehm emp­fun­de­nen Wider­spruch zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit präg­te der ame­ri­ka­ni­sche Sozi­al­psy­cho­lo­ge Leon Feis­tin­ger 1957 den Begriff der kogni­ti­ven Dis­so­nanz. Kogni­tio­nen sind men­ta­le Ereig­nis­se, die mit einer Bewer­tung ver­bun­den sind. Zwi­schen die­sen Wahr­neh­mun­gen, Gedan­ken, Mei­nun­gen, Ein­stel­lun­gen, Wün­sche oder Absich­ten kön­nen Kon­flik­te ent­ste­hen, die wir als so unan­ge­nehm emp­fin­den, dass wir sie irgend­wie auf­lö­sen müs­sen. So wie der Fuchs in der berühm­ten Fabel von Aesop, der sich nicht ein­ge­ste­hen will, dass er die Trau­ben nicht errei­chen kann und des­halb behaup­tet, dass sie ohne­hin sau­er sei­en und er sie des­halb gar nicht errei­chen wolle.

Span­nun­gen zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit ent­steht für moder­ne Füh­rung in zwei Rich­tun­gen. Einer­seits zwi­schen der eige­nen Hal­tung eines Gärt­ners, der für Rah­men­be­din­gun­gen zur Ent­fal­tung mensch­li­chen Poten­zi­als sorgt und den oft­mals dia­me­tral ent­ge­gen gesetz­ten Ansprü­chen der Orga­ni­sa­ti­on, für die gute Füh­rung in ers­ter Linie bedeu­tet, sei­nen Laden wie ein Schach­meis­ter mög­lichst fest im Griff zu haben. Ande­rer­seits sind auch nicht alle Mit­ar­bei­ter sofort wil­lens und in der Lage, die neu gewon­ne­ne Frei­heit und die damit ein­her­ge­hen­de Ver­ant­wor­tung anzu­neh­men und mit ihr kon­struk­tiv umzu­ge­hen, sodass der Gar­ten zum Leid­we­sen des Gärt­ners anfangs oft mehr Unkraut als Früch­te hervorbringt.

Die meis­ten Men­schen wol­len die Frei­heit nicht wirk­lich, weil Frei­heit Annah­me von Ver­ant­wor­tung bedeu­tet, die meis­ten Men­schen zit­tern vor sol­cher Annahme.

Sig­mund Freud

Erschwe­rend kommt hin­zu, dass bei­de Span­nungs­fel­der sich gegen­sei­tig ver­stär­ken. Zur ers­ten Ent­täu­schung über Mit­ar­bei­ter, die nicht wie erwar­tet mit­zie­hen, kommt dann die Häme ande­rer Füh­rungs­kräf­te und schließ­lich der Appell vom Chef, den eige­nen Laden wie­der in Ord­nung zu brin­gen. Die­se kogni­ti­ve Dis­so­nanz ist nur schwer aus­zu­hal­ten und nicht sel­ten fügen sich ambi­tio­nier­te Füh­rungs­kräf­te dann in ihr Schick­sal und füh­ren die Men­schen, wie sie schein­bar geführt wer­den müs­sen und wie es von ihnen erwar­tet wird.

Die eige­nen Erwar­tun­gen zu kor­ri­gie­ren und letzt­lich sich selbst zu ver­bie­gen ist aber nur eine Mög­lich­keit die­se Dis­so­nanz abzu­mil­dern und bestimmt nicht die erfül­lends­te und gesün­des­te. Eine bes­se­re Alter­na­ti­ve zur Reduk­ti­on der Dis­so­nanz ist die „Addi­ti­on neu­er kon­so­nan­ter Kogni­tio­nen“ (Wiki­pe­dia). Zwar mag die kon­kre­te Erfah­rung im Füh­rungs­all­tag zunächst viel­leicht ent­täu­schend und frus­trie­rend sein, aber nicht immer und über­all. Die­se Licht­bli­cke wer­den aber leicht begra­ben unter der Lawi­ne all der Din­ge, die nicht wie erhofft funk­tio­nie­ren. Die­se zu erken­nen, bewusst her­vor­zu­he­ben und zu fei­ern hilft unge­mein. Und von Zeit zu Zeit lohnt auch ein Blick über den Zaun der eige­nen Orga­ni­sa­ti­on in den Gar­ten ande­rer Orga­ni­sa­tio­nen und Füh­rungs­kräf­te, ent­we­der durch per­sön­li­chen Aus­tausch oder wenigs­tens durch die Lek­tü­re ent­spre­chen­der Lite­ra­tur (sehr zu emp­feh­len in dem Zusam­men­hang: Reinven­ting Orga­niza­ti­ons von Fre­de­ric Laloux).



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