Glühbirnen sind ein komfortabler und sicherer Ersatz für Kerzen und Petroleumlampen. Das leuchtet jedem sofort ein. Um den Vorteil dieser neuen Technologie zu erkennen, braucht es keinen Paradigmenwechsel, sondern lediglich einen Stromanschluss. Der Elektromotor hatte es deutlich schwerer, wie Cal Newport in seinem Artikel für das Magazin New Yorker Bezug nehmend auf die Arbeit “The Dynamo and the Computer: An Historical Perspective on the Modern Productivity Paradox” des Standford-Ökonomen Paul David ausführt.
Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Fabriken von Dampfmaschinen angetrieben. Dampfmaschinen waren groß und deshalb waren die Fabriken rund um eine zentrale Dampfmaschine aufgebaut. Diese erzeugte die Kraft, welche dann über Deichseln und Riemen verteilt wurde, um letztlich beispielsweise Webstühle in der Produktion anzutreiben.
Als der Elektromotor langsam eine Alternative zur Dampfmaschine wurde, ersetzte man kurzerhand die alte Technik (große zentrale Dampfmaschine) mit der neuen (großer zentraler Elektromotor) und verteilte die erzeugte Kraft weiterhin wie bisher. Das war zwar insofern komfortabler, als niemand mehr Kohle schaufeln musste, aber dennoch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Viel einfacher und effizienter ist es nämlich nicht die mittels Elektromotor erzeugte Kraft zu verteilen, sondern mittels kleineren Elektromotoren diese Verteilung über den elektrischen Strom viel einfacher und effektiver zu lösen. Diese Erkenntnis und dieses Umdenken dauerte allerdings viele Jahre. Immer wenn das Neue also nicht einfach das Alte ersetzt, sondern die neue Technologie einen Paradigmenwechsel erfordert, wird es schwierig.
The problem is not the problem. The problem is your attitude about the problem.
Captain Jack Sparrow
Ähnliches lässt sich beobachten mit Scrum und anderen agilen Methoden. Wie die Glühbirne sollen sie einfach die Petroleumlampe ersetzen und alles heller und besser machen, ohne dass sich grundlegend etwas ändern muss. Und wie beim Elektromotor ist es dann zwar ganz angenehm und nett, wenn das Projekt nun nicht mehr Wasserfall, sondern agil ist, aber eben nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wenn etwa die Weiterentwicklung der IT-Landschaft eines Konzerns wie BMW in Projekten abgewickelt wird, ist das unterliegende Paradigma, dass diese Veränderungen der Landschaft und ihrer Systeme immer eine temporäre Ausnahme ist und deshalb projekthaft abgewickelt wird. Angestrebt wird eigentlich Stabilität und Effizienz, denn die IT soll natürlich die Prozesse unterstützen und muss daher möglichst kostengünstig betrieben werden.
Wenn nun aber in einer Welt, die immer mehr VUCA wird, die Veränderung zur Regel wird, braucht es einen Paradigmenwechsel. Die naheliegende Idee einfach jedes Projekt ein wenig agiler zu machen ist wie der zentrale Elektromotor statt der Dampfmaschine: Besser, aber noch lange nicht gut. Das agile Projekt ist nicht die Lösung, weil das Projekt an sich als schwerfälliges Konstrukt ein Teil des Problems ist.
Echte Agilität erfordert einen größeren Umbau der IT-Fabrik. Das Paradigma lautet dann nämlich nicht mehr Stabilität und Effizienz, sondern Anpassungsfähigkeit (bei unvermindert hoher Verfügbarkeit und Stabilität). Das Projekt als Vehikel der Veränderung hat ausgedient, wenn die Veränderung und die Veränderungsbereitschaft zum Normalzustand wird. Die IT-Landschaft muss stattdessen als eine agile Produktorganisation organisiert werden.
In einer solchen agilen Produktorganisation lässt sich viel schneller auf neue Anforderungen reagieren, weil die Entscheidung dafür beim Product-Owner liegt und nicht mehr langwierig ein Projekt genehmigt und aufgesetzt werden muss. Da nun die Mitarbeiter (Experten für ihre Systeme) nicht mehr auf verschiedene Projekte verteilt werden müssen, sondern immer in ihrem Produktteam bleiben, steigt dadurch das Maß an Teamwork und Ownership deutlich. Letzteres ganz besonders dann, wenn diese Teams nicht nur für die Weiterentwicklung, sondern auch den Betrieb zuständig sind: You build it, you run it.
Diese Vision hinter der Strategie 100 % Agile der BMW Group IT in der Zeit von Ende 2016 bis Mitte 2019 halte ich nach wie vor für bemerkenswert und 100 % richtig, weil sie eben nicht nur die Dampfmaschine durch den Elektromotor ersetzt. Der Teufel steckt dabei wie so oft in unzähligen Details sowie kulturellen und organisatorischen Hürden, über die ich immer wieder in Vorträgen wie dem folgenden ausführlich berichtet hatte. Der Schlüssel zum Erfolg liegt für mich immer noch im Hinterfragen und in der Neuausrichtung von Führung. Genau deshalb entstand in diesem Kontext auch das Manifest für menschliche Führung.
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