Alle reden von Transformation, denn der digitale Wandel verlangt anpassungsfähige und kundenorientierte Organisationen. Unverrückbar erscheinende Organisationsprinzipien und über lange Jahre erfolgreiche Verhaltensweisen stehen in Frage: Weg vom lokalen Effizienzoptimum im funktionalen Silo hin zur interdisziplinären Zusammenarbeit entlang des Wertstroms, weg von langfristiger Planung in relativ stabilem Umfeld hin zu Segeln auf Sicht im VUCA-Sturm und weg von der Pyramide als Organisationsprinzip hin zum Netzwerk. Ein Umbruch in dieser Dimension gelingt aber nur, wenn die betroffenen Menschen nicht bloß als passive Objekte irgendwie „mitgenommen“ werden, sondern gleichwürdig an der Gestaltung teilhaben dürfen.
Gleichwürdigkeit
Für den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul bedeutet Erziehung in erster Linie Beziehung. Damit das gelingt brauchen die Beziehungen in der Familie eine bestimmte Qualität, wofür er den den Begriff der Gleichwürdigkeit prägte, den er selbst so beschreibt:
Gleichwürdig bedeutet nach meinem Verständnis sowohl »von gleichem Wert« (als Mensch) als auch »mit demselben Respekt« gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners. In einer gleichwürdigen Beziehung werden Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner gleichermaßen ernst genommen und nicht mit dem Hinweis auf Geschlecht, Alter oder Behinderung abgetan oder ignoriert. Gleichwürdigkeit wird damit dem fundamentalen Bedürfnis aller Menschen gerecht, gesehen, gehört und als Individuum ernst genommen zu werden.
Jesper Juul: Was Familien trägt.
Gleichwürdigkeit unterscheidet sich ganz bewusst von Gleichberechtigung, indem es eben zunächst nicht um gleiche Rechte und Pflichten geht. Gemeint ist vielmehr die Haltung, die anderen Mitglieder der Gemeinschaft in ihrer Individualität und ihren subjektiven Bedürfnissen und Wünschen anzuerkennen anstatt sie zu Objekten zu degradieren. Die Führungsaufgabe und Verantwortung bleibt dabei klar bei den Eltern (und wird nicht im Stile von laissez-faire oder demokratischen Ansätzen abgegeben), allerdings mit dem klaren Ziel der eigenverantwortlichen Selbstführung der (dann erwachsenen) Kinder.
Von tayloristischer Unmündigkeit in agile Selbstorganisation
Das zentrale Element von Agilität ist die Subsidiarität. Agile Organisationen ähneln mehr einem Netzwerk als einer Pyramide. Entscheidungen fallen dezentral dort wo auch das Wissen dazu sitzt und dort wo sich dann die Wirkung der Entscheidung entfaltet. Dieser steinige Weg von der tayloristischen Unmündigkeit in die agile Selbstorganisation verdient es definitiv Transformation genannt zu werden. Damit unterscheidet sich diese Veränderung schon begrifflich von einem bloßen Change, so dass niemand versucht sein darf, sie wie sonst auch zentral vorzudenken, anzuordnen und per Changemanagement umzusetzen.
Dialogische Führung arbeitet an der Frage, wie möglichst viele Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Organisation in eine individuelle unternehmerische Disposition gelangen und wie sie aus einer solchen heraus fruchtbar zusammenarbeiten können.
Karl-Martin Dietz: Jeder Mensch ein Unternehmer. Grundzüge einer dialogischen Kultur.
Wer es mit agiler Transformation ernst meint, muss diese erlernte Unmündigkeit überwinden und die Selbstführung der Menschen anstreben, so dass im Sinne der dialogischen Führung möglichst viele Mitarbeiter in eine verantwortungsvoll gestaltende, unternehmerische Disposition gelangen. Das gelingt aber nicht durch ein paar übergriffige Changemaßnahmen, sondern durch gemeinsame Übung und achtsame Reflexion.
It doesn’t make sense to hire smart people and tell them what to do; we hire smart people so they can tell us what to do.
Steve Jobs
„Wer den Teich austrocknen will, darf nicht die Frösche fragen.“ Dieser Satz klingt logisch und lustig, ist aber als Leitlinie für die Gestaltung von Veränderungen mit Menschen einfach nur dumm und arrogant. Die agile Transformation gelingt nur mit gleichwürdiger Teilhabe. Nur so werden nämlich aus den passiv betroffenen Objekten der Veränderung aktiv gestaltende Subjekte die langfristig in ihrer Eigenständigkeit im Sinne des Ganzen handeln können.
6 Kommentare
Total gruselig, ich fühle mich verfolgt! Erst gestern habe ich mich selbst konkret mit „Erziehung vs. Beziehung“ und Jesper Juul beschäftigt und festgestellt, wie viele Parallelen es zu moderner Führung und agilen Selbstorganisation gibt. Btw. auch Parallelen zum Bedingungslosen Grundeinkommen und das Vertrauen eines Staates in die eigenverantwortliche Selbstführung der Menschen. Schön zu wissen, dass ich nicht der einzige bin, der sich so intensiv mit diesen Themen beschäftigt.
Sehr spannend diese Parallele! Freut mich aber, dass wir auch ähnlichen Erfahrungen mit ähnlicher Perspektive zu ähnlichen Schlüssen kommen!
Danke für die Begriffe „Gleichwürdigkeit“ und „Dialogische Führung“ bzw. „Dialogische Kultur“, Marcus.
Was für ein schöner Begriff – Gleichwürdigkeit! Danke, Marcus. Er ist in Beziehungen zwischen Menschen genauso gut wie zwischen Organisationen, Institutionen oder Staaten verwendbar.
Und es gilt auch hier: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ [Bertolt Brecht] Wenn die Strukturen Subordination erzwingen, kann die bestgemeinte Gleichwürdigkeit sich nicht entfalten. Es muss also beides zusammengehen: strukturelle Gleichheit und Gleichwürdigkeit.
Lieber Lars, ich dachte mir schon, dass Dir der Begriff gefallen wird. Er ist in der genannten Bedeutung tatsächlich sehr hilfreich und mächtig auch außerhalb der Familie. Darum war mir der Artikel wichtig. Und ja, leider kommt oft zuerst das Fressen und dann die Moral …
Lieber Marcus herzlichen Dank, für diesen wunderbaren Artikel. Ich teile deine Gedanken zu Erziehung / Führung auf Augenhöhe und fühle mich durch deinen Beitrag gerade sehr in meiner Philosophie bestätigt. Gleichzeitig freue ich mich, dass wir eine ganz ähnliche Vision (mehr Menschlichkeit in Unternehmen) teilen – so schön! Das gibt mir definitiv Hoffnung für die Zukunft.