Seit Mai 2010 bin ich bei Twitter. Ein Monat länger also als dieses Blog besteht. Social Media und Bloggen gehörten für mich immer zusammen. Das Blog für den Inhalt, Social Media zur Verbreitung. Das war meine Strategie. So hatte ich das bei anderen Bloggern beobachtet und das wollte ich auch ausprobieren. Für mich selbst aus Neugierde einerseits, aber andererseits auch zum Content-Marketing für unsere damals neu gegründete Beratungsfirma.
Nach über 11 Jahren, fast 600 Artikeln, mehr als 45.000 Tweets und vielen, vielen Beiträgen auf LinkedIn, das zeitweise zum besseren Twitter für mich wurde, kann ich eine positive Bilanz aus dieser Strategie ziehen. Ich habe gerade anfangs viele interessante Menschen kennengelernt. Wir haben die PM-Camp-Bewegung gemeinsam ins Leben gerufen. Wir haben openPM gegründet und bekannt gemacht. Ich habe während meiner Zeit in der BMW Group IT die Botschaft unserer agilen Transformation darüber in die Welt getragen. Und nicht zuletzt konnte ich über dieses Set-up aus Blog und Social Media über 5.000 Leser für mein im Selbstverlag erschienenes Buch zum Manifest für menschliche Führung (Amazon Affliate-Link) gewinnen. Die Sichtbarkeit in Social Media war sicherlich auch ein Grund für viele Anfragen für Vorträge und Workshops.
Seit Beginn der Corona-Pandemie hadere ich allerdings mit den Medien im Allgemeinen und mit Social Media im Besonderen. Die Plattformen leben von unserer Aufmerksamkeit und die fängt man am besten mit Empörung. Das war natürlich auch vor Corona schon so, aber eher in kleinen Empörungswellen von denen man mal mehr und mal weniger tangiert war. Und in vielen dieser Wellen war das Muster eher „die Erleuchteten auf Twitter gegen den dummen Rest da draußen“. Diese Art der lästernden Empörung ist schäbig, aber sehr befriedigend, wie ich rückblickend schamvoll eingestehen muss.
Spätestens seit Corona verlaufen die Frontlinien aber nicht mehr zwischen den Guten drinnen und den Bösen draußen, sondern quer durch jede Timeline. Social Media war schon vorher ein Massenphänomen, Twitter schon lange keine Nische mehr und LinkedIn auf dem besten Weg zum neuen Facebook. Empörung ist mehr denn je der Garant für Aufmerksamkeit und lange Verweildauer. So wurde aus der einst heimeligen und gefühlt elitären Nische für „die Guten“ ein Ort der systematischen Empörungseskalation und dadurch der Schauplatz vieler Grabenkämpfe. Und das nicht mehr in kleinen Wellen mit verschiedenen Themen, sondern in einem immer größer werdenden Tsunami zum einzigen Thema unserer Zeit.
Ich habe nichts gegen eine harte Diskussion in der Sache, aber die erlebe ich in diesem Empörungsstrudel zu Corona nur selten. Stattdessen wurde ich mehr als einmal für ein „falsches“ Like öffentlich gemaßregelt nach dem Motto: Wer so was gut findet, den entfloge ich und das erzähle ich gleich allen. Ein wenig Empörung muss sein. Fast täglich erwische ich mich bei dem Gedanken, dass ich eine kritische Frage zu unserem Umgang mit der Pandemie nicht mehr stelle. Ich würde gerne sachlich diskutieren ohne den blutigen Lagerkampf, der seit eineinhalb Jahren immer damit endet, dass eine Seite die andere für unnötigen Schaden an Menschen verantwortlich macht. Wenn ich mich dennoch manchmal zu einem Beitrag oder Kommentar hinreißen lassen, weil mir unsere freiheitliche Demokratie sehr wichtig ist und ich mir wieder einmal große Sorgen mache, in welchem Land und Staat meine Kinder aufwachsen werden, bereue ich es in der Regel rasch.
Vielleicht werde ich auch nur alt und verfalle in diese „früher war alles besser“ Nostalgie. Vielleicht habe ich heute auch nur einfach weniger Zeit und Muße für Social Media (immerhin haben wir jetzt drei Kinder mehr als 2010). Vielleicht sind aber auch die Algorithmen der Plattformen für die unerträgliche Seichtigkeit des Diskurses verantwortlich. Und vielleicht bin ich deswegen letztlich selbst verantwortlich für all die Daten, all den Likes und Views, mit denen ich diese Algorithmen über die Jahre gefüttert habe.
Wie auch immer. Ich kann Social Media kaum noch positive Seiten abgewinnen. Es kostet mehr Energie, als es mir Inspiration oder auch nur Abwechslung bietet. Schon letzten Sommer hatte ich, inspiriert von Cal Newports Buch „Digital Minimalism“, eine Pause eingelegt und meine Nutzung dann stark eingeschränkt und fokussiert. Der Grundgedanke von Digital Minimalism ist die absichtsvolle Nutzung von Technik. Wenn ich diesen Maßstab jetzt ein Jahr später anlege und nüchtern überlege, welcher Nutzen von Social Media den Kosten an Zeit und emotionaler Energie entgegensteht, dann geht die Rechnung für mich immer weniger auf.
In diesem Sommer werde ich mich deshalb bis auf Weiteres vollständig von Twitter und LinkedIn zurückziehen. Es tut mir nicht gut und es ist die Zeit nicht wert. Oder um es mit den Worten unseres obersten Star-Virologen auszudrücken: Ich habe Besseres zu tun.
So long, and thanks for all the fish.
Douglas Adams
Natürlich bleibt es hier im Blog bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, frei nach Heinrich von Kleist. Das Schreiben ist mir ans Herz gewachsen und hilft mir beim Nachdenken. Inspiration dazu bekomme ich aus Newsletter, Podcasts und nicht zuletzt von Refind, das mir täglich interessante Links kuratiert ganz ohne Empörung. Ich freue mich natürlich, wenn möglichst viele meinen Newsletter abonnieren, denn auf Social Media werde ich sie nicht mehr veröffentlichen und dort auch nicht mehr diskutieren und kommentieren. Und ich freue mich auf eure Kommentare hier im Blog oder auf einem anderen der vielen Kanäle (E‑Mail, Threema oder Telegram). Und natürlich freue ich mich, wenn meine Artikel auf welchem Wege auch immer weiterempfohlen werden, auch auf Social Media, denn vielleicht ist eure Kosten-Nutzen-Bilanz dafür ja eine bessere.
Titelbild von DDP bei Unsplash
16 Kommentare
Marcus, was soll ich sagen. Ich finde es natürlich sehr schade. Ich habe Cal Newports Buch Deep Work geliebt und werde jetzt auch sein neues Buch lesen.
Dennoch, Twitter, LinkedIn & Co ist nicht nur etwas, was man daraus macht, sondern auch eine Nutzen-Entscheidung. Ich merke, dass ich immer noch sehr viel lerne und erfahre und gleichzeitig auch auf Menschen und Kunden treffe. Kurz, für mich geht die Rechnung noch auf.
Du wirst uns fehlen. Vielleicht überlegst du es dir noch einmal und lässt diesen wunderbaren Kommunikationskanal noch ein wenig offen. Mit absichtsvollem Minimalismus.
André, es freut mich, dass du noch so viel Nutzen aus Social Media ziehst. Und wer weiß, vielleicht komme ich ja wieder zurück. Aber bestimmt treffen wir uns anderweitig. Und: Cal Newport loht sich immer ;-)
Hallo Marcus, Respekt vor deiner Entscheidung. Ich bin mir sicher, dass viele deinen Blog weiterverfolgen werden und du viele andere Inspirationsquellen finden wirst. Wer loslässt hat bekanntermaßen beide Hände frei.
Vielen Dank, Friederike. Deine Bekräftigung tut gut.
Kompliment Marcus, du tust es, ich studiere schon länger daran rum. Deine Entscheidung bestärkt mich. Der Zeitgewinn wird enorm sein und die Qualität deren sehr hoch.
Danke für deine bestärkenden Worte, Eveline.
Hallo Marcus, ich kann Dir versichern, es liegt nur mittelbar im älter werden, Du reifst an Erfahrung, Wissen und Selbstkritik. Es hat nichts mit „früher war alles besser“ Nostalgie zu tun, aber früher konnte das Leben auch schön und erfüllt sein; auch ohne Social Media. Social Media hat auch seine positiven Seiten, die Emazipation der Masse im Diskurs, ob nun fachliche Diskussion oder einfach nur Empörung der Wutbürger. Die Auseinandersetzung hat sich vom Stammtisch zu Social Media Kanälen verlagert. Inhaltlich hat sie sich wenig verändert.
Ich bin weder auf Twitter noch auf FB, LinkedIn, Instagramm o. ä. unterwegs. Auf so manchem PM Camp war ich der einzige ohne Smartphone. Mir fehlte aber nichts und ich wurde dennoch geschätzt. Es gibt auch ein Leben ohne Social Media. Grundsätzlich ist das eine gute Erfindung, aber sie wurde durch mächtige Martteilnehmer zu deren Erfolg umfunktioniert, so wie das Internet auch nicht mehr die Ideale eines Tim Berners-Lee verkörpert, sondern längst vom Peet-to-Peer Netzwerk zum Produzenten/Konsumenten Netzwerk verkommen ist.
Da hast du recht, Mark. Die Technologie, das Internet im Großen und Social Media im Kleinen, haben sich von ihren Idealen wegentwickelt. Danke für deine Bekräftigung meiner Entscheidung.
Hallo Marcus, ich verstehe das, habe mich auch deutlich, aber nicht ganz zurückgezogen, denn auch ich habe (derzeit) Wichtigeres zu tun… auf der anderen Seite frage ich mich, ob wir damit nicht genau den Kräften das Feld überlassen, die wir dort gar nicht sehen wollen… Als ich 2006 auf Social Media durchgestartet bin ging es vor allem um Information, Austausch und Vernetzung. Viele derjenigen, die anfangs aktiv waren sind ausgestiegen. Sehr schade, denn vor allem international ist das ja häufig die einzige Chance, in Verbindung zu bleiben, gerade in Corona-Zeiten. Und ich stelle auch die Frage nach unserer Verantwortung. Wir haben Einfluß genommen, haben häufig den Ton gesetzt und bewusst oder auch unbewusst die Entwicklung auf Social Media mitgeprägt. Ich werde mich nicht zurückziehen, aber bewusster agieren, mal schauen, wo uns das hinführt. In Bezug auf Deine Pause würde ich mir wünschen, dass sie nicht allzu lange anhält :-) Grüße
Hallo Reinhard, genau deine Gedanken rund um „Verantwortung“ und „den Kräften das Feld überlassen“ haben mich so lange verweilen lassen. Aber es wurde immer anstrengender und immer unfruchtbarer. Ich gebe dir vollkommen recht, was den Nutzen von Social Media rund um globale Vernetzung betrifft. Das war schön.
Ich kann Deine Entscheidung nachvollziehen, Marcus. Vor langer Zeit traf ich die lange gereifte Entscheidung, Facebook zu verlassen. Ich habe es keine Sekunde bereut. Allerdings habe ich „soziale“ Medien auch nie beruflich genutzt, insofern war Dein Schritt schon auch gewagt. Alles Gute, ich habe ohnehin nur Deine e‑Post und Dein Blog gelesen, da ändert sich für mich nichts :-)
Schöne Grüße
Lieber Oliver, eine gute Entscheidung deinerseits. Und ich nutze Social Media ja auch nur nebenberuflich. Zum Glück erreiche ich mittlerweile so wie dich ganz viele über den Newsletter. Schön dass du an Bord bist.
Das finde ich sehr schade, lieber Marcus Raitner. Und kann es dennoch sehr gut verstehen. Wie gut, dass es auch weiterhin hier auf Deinem Blog oder über den Newsletter von Dir zu lesen gibt. Da bin ich gern weiterhin dabei, weil mich die Artikel immer sehr inspirieren und ich die Haltung überwiegend teile.
Alles Gute. So long and all the best
Anja
Vielen Dank, Anja. Im Wesentlichen, also hier im Blog, bleibt ja alles beim Alten. Die „Noise to Signal Ratio“ wird nur besser
Ich bin nicht erstaunt, Marcus, ich glaube es geht aktuell Vielen so.
Ich selber habe meine Online Präsenz verändert, mehr fokussierter. Kontolöschung bei Portalen welche mir Zeit kosten, aber keine echte Interaktion, Mehrwert oder Austausch. Noch zählen LinkedIn & Twitter zu der anderen Waagschale.
Damit ich deine Beiträge nicht versäume, hast du jetzt einen Abbonennten mehr
Freue mich auf deine Erfahrungen, ohne Social Media und die Veränderungen (hoffentlich zu dem was du dir wünschst)
Ich kann deine Entscheidung nachvollziehen. Weniger ist mehr! Respekt! Ich werde weiterhin deinen Blog verfolgen, da ich deine Beiträge sehr inspirierend finde.