John Gall praktizierte über 40 Jahre als Kinderarzt in Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan. Es ist anzunehmen, dass er diesem Beruf leidenschaftlich und zum Wohle vieler Kinder und ihrer Eltern nachging. Internationale Bekanntheit erlangte er aber nicht als Arzt sondern durch seine Beiträge zur Systemtheorie. Aus seinem 1975 erschienen Buch „Systematics“, das er später in zweiter (1986) und dritter Auflage (2002) deutlich erweiterte, stammt dieses nach ihm benannte Gesetz:
Ein funktionierendes komplexes System hat sich immer aus einem funktionierenden einfachen System entwickelt. Ein komplexes System, das von Grund auf neu entwickelt wurde, funktioniert nie und kann nicht durch Reparaturen zum Funktionieren gebracht werden. Sie müssen mit einem einfachen, funktionierenden System neu beginnen.
Dieses systemtheoretische Gesetz ist letztlich die Rechtfertigung für und die Aufforderung zu Agilität. Agile Methoden suchen empirisch, also durch Versuch und Irrtum, nach Lösungen für komplexe Probleme. Und auch wenn das bearbeitete Produkt an sich nicht sehr komplex erscheint, die Akzeptanz und der Erfolg desselben in globalen und vernetzen Märkten ist dann meist doch ein komplexes Unterfangen.
Wenig verwunderlich also, dass dieses Gesetz von John Gall oft im Zusammenhang mit dem Entwurf von IT-Systemen zitiert wird. Es lässt sich aber auch vortrefflich auf die Gestaltung und die Umgestaltung von sozialen Systemen anwenden. Organisationen, Unternehmen, Konzerne sind komplexe soziale Systeme. Sie haben sich im Laufe der Jahre entwickelt. Nicht immer zum Wohlgefallen der Lenker der Organisation oder ihrer Berater. Deshalb sollen oder müssen sie umgestaltet werden. Und so kommt es in schöner Regelmäßigkeit zu großen Changeprogrammen, die zumeist das Gesetz von John Gall komplett ignorieren: Teure Berater entwerfen in Hochglanzpräsentationen den neuen Zielzustand und koordinieren dann den Rollout und die Implementierung.
Deutlich erfolgversprechender wäre es allerdings die Transformation organisch vom Kleinen ins Große, vom Einfachen ins Komplexe durch gemeinsames Lernen und Verbessern zu gestalten. Meine Leitlinie für die agile Transformation war daher schon immer: Groß denken, klein starten, schnell lernen.
- Groß denken: Die Vision muss groß und breit genug sein, sonst bleibt man in lokalen Optima stecken. Strukturen und insbesondere funktionale Silos müssen zur Disposition stehen.
- Klein starten: Die neue Arbeitsweise muss gemeinsam erarbeitet und erprobt werden – vom Kleinen ins Große. Strukturen und Prozesse müssen entstehen durch das gemeinsame Lösen von Problemen.
- Schnell lernen: Das Ziel ist das gemeinsame Erarbeiten und Erlernen. Das gelingt durch Transparenz und Austausch. Psychologische Sicherheit ist dafür ein unverzichtbarer Nährboden.
Modelle und Frameworks werden nicht eingeführt, implementiert oder anderweitig übergestülpt, sie entstehen durch das gemeinsame Lösen von Problemen. Abkürzungen durch das bloße Kopieren von bekannten Frameworks führen in die Cargo-Kult-Hölle, wo mehr oder weniger kunstvoll zelebriert wird, was in der Tiefe nicht ansatzweise verstanden wurde.
2 Kommentare
Ich werde mal Gall‘s Law anonym bei uns am Drucker aufhängen. Wir erfinden immer wieder neue komplexe Systeme… vielleicht versteht es dann jemand, warum es eben nicht funktioniert. Und nach der nächsten „Re-Org“ noch immer nicht.
[…] https://raitner.de/2024/09/wie-man-komplexe-systeme-gestaltet-nicht/ […]