Die Diskussion rund um hybride Arbeitsformen nach der Corona-Pandemie ist vorrangig geprägt von der Frage nach örtlicher Flexibilität. Für manche und gerade jüngere Mitarbeiter mag es tatsächlich wichtig sein, örtlich flexibel zu arbeiten und im Extremfall dem digitalen Nomadentum zu frönen. Im Kern geht es aber weniger um örtliche als um zeitliche Flexibilität. Aus Work-Life-Balance wurde in der Pandemie Work-Life-Integration und diese Flexibilität will nun niemand mehr missen.
Wir haben drei Kinder und ich habe schon bei unseren zwei Töchtern Marie und Ella stets versucht, viel Zeit mit der Familie zu verbringen (Elternzeit, weniger Reisen, wenig Abendveranstaltungen, sorgfältiges Abwägen von Extrameilen etc.). Verglichen mit unserem Jüngsten habe ich aber jeweils wenig von ihren ersten Jahren mitbekommen: Valentin kam im Januar 2020 zur Welt und ich war in seinen ersten zwei Jahren viel im Homeoffice. Zudem hatte unsere älteste Tochter 2020 auch ihren Schulanfang und ich konnte ihr immer wieder bei Hausaufgaben und Homeschooling helfen und sie moralisch unterstützen. Ich war auch noch nie so fit wie in dieser Zeit, weil sich die kurze Laufrunde oder Yogaeinheit spielend leicht in den Tagesablauf integrieren lässt. Diese nahtlose Integration von Arbeit und Privatleben führt für mich zu einer besseren Balance und weniger Stress und am Ende zu besserer Leistung.
Anders als die meisten habe ich den unbefriedigenden Schritt von viel zeitlicher Flexibilität zu weniger und in meinem Extremfall zu einer klassischen Präsenzkultur mit 8 Stunden oder mehr im Büro schon einmal gemacht. Unsere Beratungsfirma esc Solutions, die ich von 2010 bis 2015 mit aufbauen durfte, hatte anfangs überhaupt kein Büro und später dann nur ein kleines, wo sich das Führungsteam einmal in der Woche traf. Den Rest der Zeit waren wir beim Kunden oder im Homeoffice. Ein Teil meiner großen Anpassungsschmerzen beim Wechsel in den Konzern im Jahr 2015 rührten von dieser zeitlichen und örtlichen Starrheit der Konzernwelt her. Verstärkt wurde dieser Schmerz damals sicherlich dadurch, dass unsere erste Tochter 2014 auf die Welt kam und ich gerne mehr Zeit der Familie verbracht hätte.
Die Pandemie hat nun vielen gezeigt, wie erfüllend es sein kann, Arbeit und Privatleben flexibel ineinanderfließen zu lassen. Das hat natürlich einen örtlichen Aspekt, insofern diese Work-Life-Integration nur am jeweiligen Lebensmittelpunkt des Arbeitnehmers stattfinden kann. Die örtliche Flexibilität allein nützt allerdings wenig, wenn ständige Erreichbarkeit erwartet wird und die Arbeit trotzdem oder gerade deswegen zu dicht gepackt ist und es auf das ermüdende Muster „eat, sleep, zoom, repeat“ hinausläuft.
Wenn es aber im Kern um zeitliche Flexibilität geht, ist die Frage nach hybriden Arbeitsformen nicht ausschließlich durch gemeinsame Zeiten um Büro und Homeoffice-Regelungen zu beantworten und schon gar nicht durch hybride Meetings. Die Frage nach hybridem Arbeiten zielt auch auf einen Mix aus synchronem und asynchronen Arbeiten im Team ab. Nur dadurch lässt sich die liebgewonnene zeitliche Flexibilität erhalten. Videokonferenzen sind auch keine Lösung, schrieb ich deshalb schon zu Beginn der Pandemie. Heute würde ich sagen: Hybride Videokonferenzen sind nur ein Teil der Lösung und im Sinne der eigentlichen Frage eher eine Themaverfehlung.
Die Pandemie hat viele Wissensarbeiter ins Nachdenken gebracht, was ihnen wichtig ist und gleichzeitig gezeigt, dass die vor-pandemische Arbeitswelt nicht Gott gegeben ist, sondern auch geändert werden kann und dann vieles vielleicht sogar besser funktioniert. Den Effekt davon sehen wir in Amerika als „Great Resignation“, aber auch in Deutschland zeichnet sich diese Tendenz immer deutlicher ab. Zur Frage, was die Menschen jetzt benötigen und wollen und was Arbeitgeber ihnen bieten müssen, fasst Marcus Buckingham in diesem Interview anlässlich einer großen Studie über 27 Länder mit tausenden Teilnehmern und anlässlich seines zugehörigen Buchs sehr treffend zusammen:
What people are really looking for isn’t flexibility of location. It’s flexibility of time. The pandemic has kind of shown everybody that we’re whole humans. [Ed. Note: At this point in the interview, my 3‑year-old daughter ran into the room.] Like your kid today on spring break, we now know what she looks like and that she runs in every now and again. We want flexibility to go pick up my kid or pick up my grandma. All this hybrid talk misses the fact that it’s not the geography, the location. It’s the flexibility of being a whole human.
Marcus Buckingham
Ich glaube darin liegt der Schlüssel: Den Mitarbeitern ein Umfeld zu bieten, wo sie nicht nur Mitarbeiter (im Sinne von Zahnrädchen im Maschinenmodell von Frederic Laloux), sondern Menschen mit einer Familie, Bedürfnissen und Hoffnungen sein können. Work-Life-Integration bedeutet den ganzen Menschen willkommen zu heißen und das Unternehmen als Werkstatt für gelingendes Leben zu begreifen, wie Bodo Janssen es in Anlehnung an die Regeln des heiligen Benedikt von Nursia formuliert.
Die Kernbotschaft in der Diskussion um hybride Arbeitsformen und eine ganz entscheidende Zusicherung müsste frei nach Goethe lauten: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Als Führungskräfte haben wir hierbei eine Führungs- und eine Vorbildfunktion. Führen müssen wir über Visionen, Rahmenbedingungen und Resultate (egal wo und wie diese erbracht werden), aber auch als Vorbilder, mit einem Leben außerhalb der Arbeit und dem Bedürfnis nach flexibler Integration von Arbeit und Privatleben und nicht zuletzt Familie.
Titelbild von Daniele Levis Pelusi veröffentlicht bei Unsplash
3 Kommentare
Soviel zum Thema Work-Life Balance. Ich habe nur ein Leben, daher ist dieses Wort ein weißer Schimmel…
@MelMel Daher finde ich auch „Life-Balance“ eigentlich viel besser. Ich verwende das schon seit Jahren.
Die strikte räumliche und zeitliche Trennung von Erwerbsarbeit und „Leben“ also z.B. Muse aber auch Sorgearbeit ist relativ neu. Sie fängt an erst mit der Fabrikarbeit im Zeitalter der Industrialisierung. Warum hat dieses Modell eine Allgemeingültigkeit erlangt? Suchen wir nach anderen Modellen, die unserer Arbeit und unserem Leben gerecht werden.