Das schleichende Gift der Überregulierung

Wie unsere Neigung, das Zusammenleben und die Zusammenarbeit nach und nach mit Regeln zu überfrachten, Gesellschaften und Organisationen schließlich zusammenbrechen lässt.

Wir Men­schen nei­gen dazu, das Leben kom­pli­ziert zu machen. Unter ande­rem, weil wir dazu ten­die­ren, Pro­ble­me dadurch zu lösen, dass wir etwas hin­zu­fü­gen und das Zusam­men­le­ben kom­ple­xer zu machen, anstatt etwas weg­zu­las­sen, selbst wenn das Weg­las­sen die klar bes­se­re Lösung wäre. Die­se Nei­gung konn­ten (Adams et al., 2021) in einer Rei­he von Expe­ri­men­ten nachweisen.

Teil­neh­mer hat­ten in einem die­ser Expe­ri­men­te die Auf­ga­be, die Sta­bi­li­tät eines Gebäu­des aus Bau­stei­nen so zu ver­bes­sern, dass am Ende das Dach einen Zie­gel­stein tra­gen wür­de (s. Abbil­dung). Die Teil­neh­mer soll­ten bei Erfolg einen Dol­lar bekom­men, aber jeder zusätz­lich ver­wen­de­te Bau­stein kos­te­te 10 Cent. Da das Dach anfangs auf einem ein­zel­nen klei­nen Stein deut­lich außer­halb des Schwer­punkts ruh­te, füg­ten die Teil­neh­mer in der Regel ein­fach wei­te­re Stei­ne hin­zu, um das Dach zu sta­bi­li­sie­ren. Viel ein­fa­cher und gewinn­brin­gen­der wäre es aller­dings gewe­sen, den ein­zel­nen Stein am Rand des Dachs zu ent­fer­nen und es dadurch sta­bil auf dem Rest der Struk­tur auf­lie­gen zu lassen. 

Quel­le: (Mey­vis & Yoon, 2021)

War­um ein­fach, wenn es auch kom­pli­ziert geht. Die­ses Man­tra lei­tet uns nicht nur bei sol­chen recht harm­lo­sen Expe­ri­men­ten. Gera­de wenn es um die Regu­lie­rung des Zusam­men­le­bens in Gesell­schaf­ten oder die Orga­ni­sa­ti­on der Zusam­men­ar­beit in gro­ßen Kon­zer­nen geht, tap­pen wir in gro­ßem Stil in die­se Fal­le und wer­den all­mäh­lich von unse­rer selbst geschaf­fe­nen Kom­ple­xi­tät erdrückt.

Im Lau­fe der Zeit ten­die­ren Gesell­schaf­ten dann dazu, immer kom­ple­xer zu wer­den und büßen dadurch schlei­chend ihre Resi­li­enz ein. Sie lösen Pro­ble­me, indem sie die Kom­ple­xi­tät ste­tig erhö­hen. Abge­se­hen von der recht unschö­nen Sin­gu­la­ri­tät eines Zusam­men­bruchs steht ihnen aber kein Mecha­nis­mus zur Ver­fü­gung, um die Kom­ple­xi­tät wie­der zu abzu­bau­en. Auf dem Höhe­punkt die­ser Ent­wick­lung befrie­digt die Gesell­schaft nur noch die selbst geschaf­fe­ne Kom­ple­xi­tät und es feh­len Res­sour­cen, um mit einer exis­ten­ti­el­len Bedro­hung fer­tig zu wer­den. Was kon­kret das Fass zum Über­lau­fen bringt, kann sehr unter­schied­lich sein – eine Dür­re, eine Seu­che, ein Auf­stand – ist aber letzt­lich egal. Die Gesell­schaft bricht dadurch zusam­men und redu­ziert damit schlag­ar­tig das Über­maß an Komplexität.

So fasst Greg McKeown das Haupt­ar­gu­ment aus Joseph Tain­ters 1990 erschie­ne­nen Buch »The Col­lap­se of Com­plex Socie­ties« im Pod­cast bei Tim Fer­riss zusam­men. Als Anthro­po­lo­ge und His­to­ri­ker bezieht Tain­ter sei­ne Ein­sich­ten auf (anti­ke) Gesell­schaf­ten wie die Maya oder das West­rö­mi­sche Reich, eine Über­tra­gung auf moder­ne Kon­zer­ne und ande­re Büro­kra­tien drängt sich aber förm­lich auf. Jedes Unter­neh­men war einst ein schlan­kes und agi­les Start-up. Mit dem Erfolg und dem Wachs­tum wuch­sen die Pro­ble­me und jede Lösung mün­de­te in mehr Pro­zes­se, Rol­len und Richt­li­ni­en. Anfangs hat­ten die­se Regeln durch­aus gro­ßen Wert, um dem Cha­os Ein­halt zu gebie­ten. Der Grenz­nut­zen erhöh­ter Kom­ple­xi­tät nimmt aber schnell ab und am Ende ste­hen Rei­se­kos­ten­richt­li­ni­en, zu deren ver­ein­fach­ter Anwen­dung neu­er­dings ChatGPT ein­ge­setzt wird. Fin­de den Fehler.

Der Grenz­ertrag von Inves­ti­tio­nen in die Kom­ple­xi­tät ver­schlech­tert sich also, zunächst all­mäh­lich, dann immer schnel­ler. An die­sem Punkt gerät eine kom­ple­xe Gesell­schaft in eine Pha­se, in der sie zuneh­mend vom Zusam­men­bruch bedroht ist.

Joseph Tain­ter

Das bri­ti­sche Kolo­ni­al­amt ist ein gutes Bei­spiel für die­sen Effekt (Par­kin­son, 1955). Es war als eigen­stän­di­ge Abtei­lung der bri­ti­schen Admi­nis­tra­ti­on von 1854 bis 1966 für die Ver­wal­tung der bri­ti­schen Kolo­nien zustän­dig. Die meis­ten Beam­ten hat­te das Kolo­ni­al­amt, als es 1968 man­gels zu ver­wal­ten­der Kolo­nien in das Außen­mi­nis­te­ri­um inte­griert wur­de. Die Insti­tu­ti­on war wenig pro­duk­tiv, aber sehr beschäf­tigt – offen­bar vor allem mit der Befrie­di­gung der selbst geschaf­fe­nen Komplexität.

Nur weni­ge Orga­ni­sa­tio­nen errei­chen frei­lich die­ses End­sta­di­um, wo die wert­lo­se Beschäf­ti­gung mit inter­nen Pro­zes­sen die Wert­schöp­fung kom­plett ver­drängt hat. Ein unter­schätz­ter Kon­kur­rent, eine falsch ein­ge­schätz­te neue Tech­no­lo­gie oder Ähn­li­ches führt viel frü­her zu tie­fen Ein­schnit­ten und einem Neu­start und gele­gent­lich zum kom­plet­ten Zusam­men­bruch. Wer das ver­hin­dern will, soll­te nicht nur wach­sam gegen­über die­sen Bedro­hun­gen zu sein, son­dern muss auch dafür sor­gen, dass die Orga­ni­sa­ti­on schlank und damit reak­ti­ons­fä­hig bleibt und der Ver­kal­kung durch Über­re­gu­lie­rung kon­se­quent entgegenwirken.

Literatur

Tain­ter, J. A. (1990). The col­lap­se of com­plex socie­ties. Cam­bridge uni­ver­si­ty press. (erwähnt im Pod­cast von Tim Fer­ris #786 ab ca. Minu­te 50:00)

Adams, G. S., Con­ver­se, B. A., Hales, A. H., & Klotz, L. E. (2021). Peo­p­le sys­te­ma­ti­cal­ly over­look sub­trac­ti­ve chan­ges. Natu­re, 592(7853), 258 – 261. https://doi.org/10.1038/s41586-021 – 03380‑y

Mey­vis, T., & Yoon, H. (2021). Adding is favou­red over sub­trac­ting in pro­blem sol­ving. Natu­re, 592(7853), 189 – 190. https://doi.org/10.1038/d41586-021 – 00592‑0

Par­kin­son, C. N. (1955). Parkinson’s Law. The Eco­no­mist, 177(5856), 635 – 637. https://www.economist.com/news/1955/11/19/parkinsons-law



Share This Post

2 Kommentare

Oli Schlecht 12. Januar 2025 Antworten

Hal­lo Marcus,
ich ver­su­che das mal mit mei­ner Beob­ach­tung zu ergänzen/kommentieren.
Auf Basis mei­ner Erfah­run­gen wür­de ich das so inter­pre­tie­ren: Je größer/anonymer die Grup­pe wird, je mehr Regeln wer­den auf­ge­stellt bzw. sind not­wen­dig. Das hängt ggf. damit zusam­men, dass Ein­zel­ne in der Men­ge unter­tau­chen kön­nen und mit ihrem non-kon­for­men Ver­hal­ten zu den gemein­schaft­lich ver­ein­bar­ten non-ver­ba­len Regeln nicht wei­ter auf­fal­len. Gleich­zei­tig ist einer grö­ße­ren Grup­pe die Hemm­schwel­le die­se Ein­zel­nen non-kon­form han­deln­den Per­so­nen anzu­spre­chen und mit ihnen im Dis­kurs die Grup­pen-Regeln (neu) aus­zu­le­gen deut­lich schwieriger.
Im 7er Scrum-Team müs­sen alle Regeln dis­ku­tiert – aber nicht doku­men­tiert wer­den. Die Grup­pe bestimmt ihre Nor­men und Wer­te. Der gemein­sa­me Nen­ner kann ein­fach her­ge­stellt wer­den und neue Team Mit­glie­der wer­den schnell dar­auf ein­ge­schwo­ren. Gleich­zei­tig ist die Grup­pe aus­rei­chend agil um Ver­än­de­run­gen zu erken­nen und zu adaptieren.

Je grö­ßer die Grup­pe wird, je schwie­ri­ger wird die­ser Prozess.
In einem Kon­zern bedarf es Gre­mi­en die The­men dis­ku­tie­ren und neue Regeln defi­nie­ren – die dann doku­men­tiert und kom­mu­ni­ziert werden. 

In der Gesell­schaft über­neh­men die­se Rol­le Par­tei­en, NGOs, Ver­bän­de und Lob­bi­is­ten. Am Ende gibt es ein Gesetz. Und weil es aus­rei­chend Men­schen gibt die hier non-kon­form agie­ren und in der Mas­se unter­tau­chen, wer­den Regeln verschärft.

Es wür­de kein Böl­ler­ver­bot not­wen­dig sein, wenn die Geset­ze von alles beach­tet wür­den – da aber eini­ge weni­ge in der Mas­se mei­nen unter­zu­ge­hen, nut­zen sie die­se Deckung um non-kon­form mit Böl­lern auf Men­schen, Poli­zei, Feu­er­wehr und Ret­tungs­kräft zu schießen.
Wäre das ein 7er Team, wäre die Sache schnell ausdiskutiert. 

Es ist also weni­ger der Ver­lust an Eigen­stän­dig­keit und Res­li­enz son­der mehr das Unver­mö­gen der aktu­el­len Gene­ra­tio­nen sol­chen Men­schen gegen­über­zu­tre­ten und denen die (demo­kra­ti­sche) Stirn zu bieten.

Noch ein Bei­spiel: Beim letz­ten Kip­pen-Sam­meln habe ich in Poing am Bus­bahn­hof vor dem Markt­platz die Kip­pen aus den Pflas­ter­stei­nen geklaubt. Es war zur Wiesn-Zeit und es woll­te ein jun­ger Mann mit sei­nem PKW die­se Stel­le durch­fah­ren. Hier ist aber die Durch­fahrt für PKWs nicht erlaubt – ist aber der schnells­te Weg zum Park­haus. Ich habe ver­sucht ihm das freund­lich zu erklä­ren – es war ihm aber egal. Dar­auf habe ich mich vor das Auto gestellt und ich war mir nicht sicher, ob mich gleich umfährt. 

Die Regel ist ein­fach: Das darf (aus gutem Grund) kein PKW fah­ren. Trotz­dem machen das täg­lich zig PKWs, Lie­fer­wa­gen und LKWs. Es ist ja schließ­lich nie­mand da, der sich dar­um küm­mert. Und ohne Klä­ger eben auch kei­nen Rich­ter. Es braucht da aber auch kei­ne Poli­zei zur Kon­trol­le, wenn es jeder das Ver­bots­schild akzep­tie­ren würde.
Wenn das aber kei­ner macht und irgend­wann dort ein Kind vom Fahr­rad geholt wird, dann wird da eben ein Blit­zer instal­liert der alle Fahr­zeu­ge <5t sicherstellt. 

Wir sind also in der Gesell­schaft selbst Schuld, wenn Regeln immer wei­ter erwei­tert wer­den. Ein­fach Vor­bild sein und es nicht tun und ande­re dar­auf auf­merk­sam machen, wenn sie die gesell­schaft­lich ver­ein­bar­ten Regeln nicht einhalten. 

Und ja – ich kom­me mir lang­sam alt und spie­ßig vor, wenn ich (jün­ge­re) Mit­men­schen dar­an erin­ne­re, dass ihr Ver­hal­ten nicht kon­form unse­rer Regeln ist. In der Fir­ma ist das zum Glück noch bes­ser, da über­zeu­gen die Argu­men­te. Auf der Stra­ße bekom­me ich nur einen dum­men Kom­men­ta­re und habe inzwi­schen Angst davor, dass neben fre­chen Wor­ten noch ein Mes­ser zum Vor­schein kommt.

Marcus Raitner 13. Januar 2025 Antworten

Hal­lo Oli, dan­ke für dei­ne aus­führ­li­chen Ergän­zun­gen. Die Grö­ße und damit die Anony­mi­tät spie­len sicher­lich eine Rol­le. Dan­ke auch, dass du mit gutem Bei­spiel vor­an­gehst. Das macht dich in mei­nen Augen nicht zu einem spie­ßi­gen Nörgler ;-)

Schreibe einen Kommentar