Auf dem Weg zur einer agilen Organisation werden Freiheit und Verantwortung neu verhandelt. Die Selbstorganisation als wesentlicher Baustein von agilen Organisationen geht einher mit mehr Freiheit, insbesondere die Freiheit, Arbeitsinhalte und Arbeitsweise im Team zu gestalten. Der Preis für diese Freiheit ist die Verantwortung für das Produkt und den Prozess. Aufgrund dieser prinzipiellen Interdependenz ist das kontinuierliche Ausbalancieren von Freiheit und Verantwortung entscheidend für das Gelingen von Veränderungsprozessen.
Die meisten Menschen wollen die Freiheit nicht wirklich, weil Freiheit Annahme von Verantwortung bedeutet, die meisten Menschen zittern vor solcher Annahme.
Siegmund Freud
Wer über Jahre und Jahrzehnt mit starren Prozessen und Rollen zu organisierter Verantwortungslosigkeit, mit individuellen Belohnungssystemen zu Konkurrenz anstatt Kooperation und in einer Kultur der Angst zu Absicherung und Abgrenzung erzogen wurde, wird bei Begriffen wie end-to-end-Verantwortung für Produkte und interdisziplinären oder cross-functional Teams mit Skepsis und Angst reagieren. Insofern hat Freud Recht. Die Menschen sind aber nicht prinzipiell unfähig oder unwillig Verantwortung zu übernehmen, ihr Verhalten resultiert vielmehr aus der Anpassung an entmündigende Strukturen. Ohne diese Annahme der Gültigkeit der Theory Y von Douglas McGregor über die grundsätzliche Motivation und Verantwortungsbereitschaft wäre jede Veränderung hin zu einer agilen Organisation prinzipiell zum Scheitern verurteilt.
In einer Organisationskultur, in der gegenseitiger Respekt und die Würde des Einzelnen an höchster Stelle stehen, funktionieren Beschämung und Schuldzuweisungen als Mittel des Führungsstils nicht. Es gibt dort keine Macht durch das Schüren von Angst. Empathie wird kultiviert, Verantwortlichkeit ist die Regel statt die Ausnahme, und das primäre menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird nicht zur Manipulation […] benutzt.
Brené Brown, „Daring greatly“
Echte Verantwortung jenseits üblicher Ausreden wie Schuldzuweisung kann nur in einer Kultur des Vertrauens entstehen. Solange im Falle des Scheiterns reflexhaft nach dem Schuldigen gesucht wird – und darin sieht Yves Morieux in seinen TED-Vortag den primäre Zweck von Rollen und Prozessbeschreibungen – werden die Menschen auch keine Verantwortung jenseits ihrer eigentlichen Rolle und für das Ganze übernehmen. Aufgabe der Führung ist es durch angstfreie Räume eine Kultur des Vertrauens zu als Grundlage für Verantwortungsbereitschaft zu fördern. Erst dann kann Agilität, Kreativität und Innovation gedeihen.
Trust begins to emerge when we have a sense that another person or organization is driven by things other than their own self-gain.
Simon Sinek
Die Veränderung zu mehr Agilität bedeutet mehr Verantwortung für den Einzelnen. Diese Reise beginnt notwendigerweise mit einem Vertrauensvorschuss und mehr Freiheit. Wie wäre es zum Beispiel die Mitarbeiter selbst über Weiterbildungsmaßnahmen und Konferenzen entscheiden zu lassen und lediglich zu verlangen, dass sie ihre Erkenntnisse mit den anderen teilen in Form von Vorträgen oder Beiträgen in einem Enterprise Social Network, das vielerorts sowieso brach liegt? Oder wie wäre es, die Mitarbeiter frei über ihren Arbeitsort entscheiden zu lassen und dafür wie jüngst Otto einen eigenen Co-Workingsspace und sogar Flächen im Freien bereitzustellen? Oder wie wäre es, wenn Mitarbeiter ihre Arbeitsmittel in gewissem Rahmen frei und ohne Genehmigungsorgien wählen könnten und Teams ihre Räume frei gestalten und umgestalten könnten? Kleine Schritte für die Organisation, die aber die Freiheit des Einzelnen und der Teams signifikant erhöhen und damit im Gegenzug die Übernahme von neuer Verantwortung wahrscheinlicher werden lassen.
I think of a hero as someone who understands the degree of responsibility that comes with his freedom.
Bob Dylan
2 Kommentare
Wunderbarer Text, Herr Raitner! So geht Agil: Einfach mal loslassen und vertrauen, dass das Gute passiert…
Vielen Dank, Frau Kluge. Einfach und doch so schwierig in gewachsen Strukturen …