Das Ausmaß der Erniedrigungsbürokratie (Reinhard K. Sprenger) ist in vielen Unternehmen erschreckend. Erwachsene Menschen werden entmündigt und infantilisiert. Die Motive dafür reichen von Kontrolle bis Fürsorge. Andererseits konstatierte schon Peter F. Drucker, dass sich Wissensarbeiter selbst managen müssen. Diese Autonomie hat maßgeblichen Einfluss auf die Motivation von Menschen. Und umgekehrt erklärt das Fehlen dieser Autonomie einen Gutteil der katastrophalen Ergebnisse des jährlichen Gallup Engagement Index, wonach 70% der Arbeitnehmer in Deutschland nur Dienst nach Vorschrift machen und 15% sogar schon innerlich gekündigt haben. Jede Reise beginnt mit einem kleinen Schritt, heißt eine chinesische Weisheit. Die Reise zu mehr Autonomie und Mündigkeit beginnt mit weniger Auslastung, freier Wahl von Arbeitsmitteln, Arbeitsort und ‑zeit sowie freier Wahl von persönlicher Weiterbildung.
Fürsorgliches Verhalten hat einen Hang zur Entmündigung. Beschützen hält die Menschen klein. Fürsorge ist daher Nummer Eins der zehn Möglichkeiten Menschen passiv zu machen.
Reinhard K. Sprenger
In dem derzeit (noch) vorherrschenden Maschinenmodell werden Organisationen als Maschinen betrachtet. Die Menschen darin haben Funktionen nach exakten Vorschriften in definierten Prozessen auszufüllen, damit die Maschine möglichst reibungsfrei läuft. Der Aufbau und Umbau der Maschine ist Aufgabe des Management. Genauso wie die Optimierung der Auslastung der Maschine insgesamt sowie ihrer Einzelteile und somit auch der Mitarbeiter. Darum gibt es Kernarbeitszeiten, Anwesenheitspflicht und Stechuhren. Auch in Unternehmen und Unternehmensbereichen, die diesen Fabriktakt bei genauerer Betrachtung gar nicht benötigen.
Das Unternehmen fragte demnach über 80.000 seiner Mitarbeiter aus Verwaltung und Entwicklung: „Wie wollt ihr in Zukunft arbeiten?“ Und die antworteten mit einer überwiegenden Mehrheit von über 80 Prozent: „Wir wollen räumliche und zeitliche Autonomie.“
Huffington Post über die Veränderung der Arbeitswelt bei Daimler
Dieses auf Konformität und Effizienz ausgerichtete Organisationsmodell führt prinzipiell zu Entmündigung und Entfremdung. Individuelle Stärken und Vorlieben sind eine problematische Abweichung. Zwei Monitore statt einem, weil Sie damit deutlich produktiver wären? Sie arbeiten mit einem Mac deutlich lieber und produktiver? Oder sie arbeiten lieber an einem Stehtisch? Ein iPhone mit LTE statt des günstiger Windows-Phones ohne Datentarif, weil Sie gerne mal in der U‑Bahn E‑Mails lesen und iOS gewohnt sind. Nicht vorgesehen, zu teuer in Anschaffung und Betrieb. Was übersetzt so viel heißt wie: Ihre Produktivität und Vorlieben sind uns egal, wir haben einen Standard und gute Gründe dafür, allen voran die Effizienz und Synergien, die wir uns einseitig schön gerechnet haben. Wo kämen wir da hin, wenn alle solche Ansprüche anmelden würden! Ja, wohin kämen wir da eigentlich?
Control leads to compliance; autonomy leads to engagement.
Daniel H. Pink
Sie interessieren sich für Visual Facilitation und Graphic Recording, wollen das eine oder andere PM Camp besuchen oder sich zum Scrum-Master ausbilden lassen? Wenn derartiges überhaupt im Unternehmen angeboten und opportun ist, entscheiden dürfen Sie das nicht allein, spätestens wegen der Budgetfreigabe müssen Sie bei Ihrem Chef vorbei. Nicht selten mit bescheidenem Erfolg, weil das Weiterbildungsbudget mal wieder als erstes der Plan-Ziel-Lücke zum Opfer fiel.
70 Prozent sind genug. Die reguläre Arbeit eines Mitarbeiters ist in 70 Prozent seiner Zeit zu schaffen. Für den Rest meldet er sich nach Lust und Laune bei Projekten an. Die Ideen dazu stammen von ihm selbst oder werden vom Management vorgeschlagen. Der Mitarbeiter sucht sich aus, womit er sich am meisten identifiziert. Niemand zwingt ihn, auch nicht implizit. Die Begeisterung für die Projekte ist groß, weil das Management gut begründet, warum gerade sie das Unternehmen voranbringen.
Die Presse über die Arbeitswelt bei Allsafe Jungfalk
Wenn Sie denn überhaupt Zeit haben über Fortbildung nachzudenken. Das Paradigma der Effizienz durch Auslastung sieht das Schärfen der Säge bestenfalls am Wochenende vor. Richtig und zukunftsweisend wäre auch hier der Ansatz von Google, aber auch von einigen kleineren Unternehmen wie Allsafe Jungfalk, den Mitarbeitern die Autonomie über einen Teil ihrer Arbeitszeit zurückzugeben. In diesem Freiraum gedeiht Motivation und Innovation. Die Mitarbeiter sind dann eben nicht mehr auf ihre Funktion als Rädchen im Getriebe reduziert, sondern arbeiten auch engagiert an der Zukunft ihres Unternehmens. So könnte echte Ermächtigung zur Arbeit am System aussehen.
We have three innate psychological needs — competence, autonomy, and relatedness. When those needs are satisfied, we’re motivated, productive, and happy.
Daniel H. Pink
Autonomie beginnt im Kleinen. Mit Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Arbeitsmittel, ‑ort und ‑zeit und in Bezug auf die persönliche Weiterentwicklung. Innerhalb eines gewissen Rahmens natürlich. Warum also nicht jedem Mitarbeiter ein Budget für Arbeitsmittel oder eines für Weiterbildung zugestehen, über das er oder sie frei entscheiden kann? Warum nicht einen Teil der Arbeitszeit zur freien Disposition stellen zur Arbeit an Projekten mit denen sich der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin voll identifiziert? Weil das nicht effizient und bezahlbar ist, heißt es dann sofort. Stimmt, aber Effizienz ohne Effektivität ist in der heutigen VUCA-Welt recht schnell existenzgefährdend. Motivierte und engagierte Mitarbeiter sind kein Luxus, sondern die Grundlage der Geschäftsmodelle von morgen. Jedenfalls in Unternehmen, die sich darauf einlassen und den Mitarbeitern die notwendige Autonomie bieten. „War for talent is over. Talent has won.“ (via Marcel Miller auf Twitter)
Versuchen Sie nicht, Ihre Mitarbeiter zu verbessern, sondern setzen Sie sie so ein, dass sie ihre Stärken ausspielen können. Ermutigen Sie jeden einzelnen, sein Besonderes zur Geltung zu bringen. Überprüfen Sie Ihre Institutionen: Senden Sie Botschaften der Konformität oder des Unternehmerischen? Reduzieren Sie den Rechtfertigungsdruck und schaffen Sie ein Vertrauensklima. Das bringt Sie nicht nur im Wettbewerb nach vorne, sondern wird sich auch auf Personalmärkten schnell rumsprechen: Ein respektvolles Miteinander ist in hohem Maße attraktiv für gute Leute.
Reinhard K. Sprenger