Was macht agile, also hochgradig anpassungsfähige, Organisationen aus? Sicherlich mehr als ein paar Scrum-Teams mit Standup-Meetings und Tischkicker. Es ist auch bei weitem nicht damit getan, alle Projekte agil zu machen, weil Projekte von der ersten Idee bis zur Genehmigung viel zu träge sind in klassischen plangetriebenen und damit wenig agilen Organisationen. Agilität betrifft die ganze Organisation, sie ist mehr Einstellung und Haltung als Methode und Agilität basiert auf Prinzipien. Zwei dieser Prinzipien wurden in den bereits erschienen Teilen dieser Serie bereits ausführlich dargestellt: Am Beispiel der niederländischen Pflegeorganisation Buurtzorg das Prinzip der Kundenorientierung durch Dezentralisierung und am Beispiel des französischen Druckgussherstellers das Prinzip von Vertrauen statt Kontrolle. Je dezentraler und autonomer die Teams in einer vertrauensvollen Umgebung arbeiten, desto weniger kann die (ohnehin meist nicht mehr vorhandene) Hierarchie als primärer Kommunikationsweg genutzt werden und desto mehr spielt der Austausch durch Vernetzung eine ganz entscheidende Rolle.
Ein wesentliches strukturgebendes Merkmal hierarchisch-tayloristischer Organisationen ist die funktionale Teilung. Die Gliederung der Organisation erfolgt nach Funktionen. Im Großen gibt es dann typischerweise Vertrieb, Entwicklung, Produktion, IT, Human Resources (das wir nicht so nennen sollten, weil der Menschen immer Zweck und niemals nur Mittel des Wirtschaftens sein darf) und viele mehr. Im Kleinen führt die funktionale Teilung dann in der IT beispielsweise zu Abteilungen und Gruppen in denen Spezialisten für Testmethodik und Testmanagement oder für Architektur oder für den Betrieb der IT-Landschaft gebündelt werden. Die Logik hinter dieser funktionalen Bündelung ist die Professionalisierung und Optimierung der jeweiligen Funktion, um dadurch dann Synergieeffekte zu heben. Ein hochgradig fragmentierter Wertstrom zum Kunden wird billigend in Kauf genommen und so die (lokale) Effizienz der Anpassungsfähigkeit und Schnelligkeit untergeordnet.
Verantwortung beginnt dort, wo der eigene Auftrag endet. Vorher ist es Pflicht.
Das Prinzip der Kundenorientierung durch Dezentralisierung löst diese funktionalen Silos auf (und die damit einhergehende Hierarchie) zugunsten interdisziplinärer und autonomer Teams, die Nahe am Kunden möglichst alles aus einer Hand bieten können. Die Konsequenz daraus ist aber auch eine Dezentralisierung des Wissen und der Erfahrung: Die Experten sind nun verteilt über die Teams. Um trotzdem von diesem kollektiven Wissen zu profitieren, Erfahrungen auszutauschen und nicht das Rad in jedem Team neu zu erfinden, findet sich in agilen Organisationen ein dicht gewebtes Informationsnetzwerk in dem bereitwillig Wissen weitergegeben und anderen geholfen wird.
At Buurtzorg, there are 7,000 nurses scattered over the country, and most of them have never met. The company’s internal social network helps nurses locate a colleague with a specific expertise; they can then pick up the phone and ask a question. Nurses can also post questions directly on the platform in a continuous Facebook-like stream. Collectively, the 7,000 nurses have an extraordinary breadth of medical and technical knowledge; in almost all cases, the answer to a question is out there somewhere. The trick is to find the right person!
Frederic Laloux. Reinventing Organizations (Amazon Affiliate-Link)
Jos de Blok setzte also beim Aufbau von Buurtzorg von Anfang an auf eine dichte Vernetzung im internen Enterprise Social Network (ESN). Er schuf damit ein inspirierendes Beispiel für die oft unterschätzte Macht eines ESN gepaart mit einer Kultur in der bereitwillig Wissen weitergegeben und anderen Teams geholfen wird. Diese Grundhaltung ist leider nicht selbstverständlich für Menschen, die in klassisch-tayloristischen und funktional geteilten Unternehmen sozialisiert wurden. Insbesondere die vorherrschenden Zielsysteme zementieren durch entsprechende monetäre Anreize die funktionalen Silos immer weiter, denn in der Regel fokussieren diese Zielsysteme auf den Verantwortungsbereich des eigenen Silos und nicht darauf anderen außerhalb zu helfen. Dies führt zu einer Kultur in der jede Führungskraft erst mal den eigenen Laden in Ordnung bringt und hält und so verhalten sich dann auch die Mitarbeiter. Es führt garantiert nicht zu einem fruchtbaren Austausch, sondern zu Information Hiding und lokalen Optimierungen.
Eliminate numerical goals, numerical quotas and management by objectives. Substitute leadership.
W. Edwards Deming
Der Austausch durch Vernetzung ist also keine Frage des Werkzeugs, sondern primär eine Frage der Kultur. Dieses Prinzip bildet aber das notwendige Gegengewicht zur Autonomie oder mit den Worten von Henrik Kniberg im folgenden Video über die Engineering Culture bei Spotify: „Be autonomous, but don’t suboptimize.“ Bei Spotify tauschen sich Experten regelmäßig in sogenannten Gilden aus, die ihr Thema, beispielsweise IT-Security, über die Teams hinweg voranbringen wollen. In vielen anderen Organisationen wird das Community of Practice genannt, das Prinzip ist aber immer dasselbe, nämlich fragmentiertes Expertentum thematisch über die autonomen Teams hinweg zu bündeln und durch Austausch voneinander zu lernen.